„Es gibt kein absolutes Recht auf Heimat“

Verfassungsrichter Ulrich Maidowski ist zuständig für Ausländerrecht. Er erklärt, warum auch Ausländer, die hierzulande aufwuchsen, abgeschoben werden können – und warum das Lesen der Bild das erschweren kann

Wenn das „Ausweisungsinteresse“ des Staates überwiegt, droht auch hier Aufgewachsenen die Abschiebung Foto: Boris Roessler/dpa

Interview Christian Rath

taz: Herr Maidowski, ich möchte mit Ihnen über faktische Inländer sprechen.

Ulrich Maidowski: Bitte.

Vorweg: Was meint der Begriff „faktische Inländer“ genau? Sind damit nur ausländische Staatsbürger gemeint, die in Deutschland geboren wurden? Oder ist der Begriff weiter?

Faktische Inländer sind Menschen, die viele Jahre ihres Lebens – häufig ihre gesamte Kindheit und Jugend – in Deutschland verbracht haben oder sogar hier geboren sind und sich in unsere Gesellschaft eingefügt haben, die aber nicht die deutsche Staatsbürgerschaft haben. Sie sind hier verwurzelt, haben enge Bindungen an die deutsche Gesellschaft, während sie ähnlich starke Bindungen an den Staat ihrer Staatsangehörigkeit nicht entwickelt haben.

Mir ist aufgefallen, dass immer wieder solche faktischen Inländer ausgewiesen und abgeschoben werden – als Gefährder oder weil sie Straftaten begangen haben. Ist das verfassungsrechtlich zulässig?

Es gibt kein absolutes Abschiebe­verbot für faktische Inländer. Behörden und Gerichte müssen in solchen Fällen allerdings sehr genau die Verhältnismäßigkeit einer Aufenthaltsbeendigung prüfen.

Gibt es kein Recht auf Heimat, wenn jemand hier seine ganze Kindheit, seine Schulzeit verbracht hat, faktisch nichts anderes kennt als Deutschland?

Ein absolutes Recht auf Heimat für Menschen, die nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, kennt das deutsche Verfassungsrecht nicht.

Ein Deutscher, der hier Straftaten begeht oder Terrorgefahren erzeugt, muss nicht damit rechnen, seine Heimat zwangsweise verlassen zu müssen. Was rechtfertigt die unterschiedliche Behandlung?

Die Staatsbürgerschaft rechtfertigt den Unterschied. Ein Deutscher, der hier Straftaten begeht, muss in Deutschland natürlich mit Strafverfolgung und Strafvollstreckung rechnen, wie der faktische Inländer. Ein Deutscher, der als Gefährder eingestuft ist, muss mit Überwachung rechnen, wie der faktische Inländer. Ein Deutscher ist aber per definitionem vor der Ausweisung, also dem Entzug des Aufenthaltsrechts, geschützt, auch vor der Abschiebung – das heißt: der Beendigung des illegalen Aufenthalts. Das alles geht nur bei Leuten ohne deutsche Staatsangehörigkeit.

Es kommt also nur auf den formalen Status an, bei ansonsten gleicher Lebensgeschichte?

Sie sollten die Staatsbürgerschaft nicht gering schätzen. Das ist mehr als ein formaler Status oder ein Stück Papier. Für sehr viele Menschen ist das ein wichtiger Teil ihrer Identität.

Aber nur, wenn man die gewünschte Staatsbürgerschaft auch hat.

Jemand, der hier aufgewachsen ist, hat regelmäßig gute Chancen, sich einbürgern zu lassen. Faktische Inländer ohne deutsche Staatsbürgerschaft entscheiden sich vielfach und aus Gründen, die man respektieren muss, bewusst dagegen. Aber sie sind ja dennoch nicht schutzlos. Wenn ein faktischer Inländer abgeschoben werden soll, ist wie gesagt eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung zwingend erforderlich.

Wie sieht diese Prüfung aus?

Es geht um eine Abwägung: Auf der einen Seite stehen die Verwurzelung in Deutschland sowie die Belastung, in ein möglicherweise fremdes Land ziehen zu müssen, das so genannte Bleibe­interesse. Auf der anderen Seite steht die Gefahr, die von der Person ausgeht, das Ausweisungsinteresse.

Beginnen wir mit der Verwurzelung in Deutschland. Ist sie nicht normal bei jemandem, der hier aufgewachsen ist?

Früher gab es die Daumenregel: Wer Straftaten begeht, ist offensichtlich nicht integriert. Das allein ist aber nicht zwingend, man muss genauer hinschauen. Auch viele Deutsche begehen ja Straftaten …

Uli Hoeneß zum Beispiel ist trotz Straftat hervorragend integriert.

Für zu einfach halte ich auch die Annahme, dass jemand nicht integriert sein kann, nur weil er längere Zeit Sozialleistungen bezogen hat. Die wirtschaftliche Situation der Betroffenen ist ein Umstand unter mehreren, die berücksichtigt werden müssen.

Auf was kommt es stattdessen an?

Die Diskussion ist hier sicher noch nicht am Ende. Eine mehr soziologische Betrachtung stellt zum Beispiel auf den Freundeskreis und den Medien­konsum ab.

Wer türkisches Fernsehen ansieht, statt die Bild-Zeitung zu lesen, ist nicht in Deutschland verwurzelt?

Ich würde es positiv ausdrücken: Wer sich – auch – mithilfe der Medien aus Deutschland informiert, scheint sich jedenfalls für das Geschehen in Deutschland zu interessieren.

Kann auch ein Salafist in Deutschland verwurzelt sein?

Soweit es nur um eine besonders strenge Islamauslegung geht, mag das möglich sein. Aber bei einem gewaltbereiten Terrorsympathisanten hört die Diskussion auf. Der ist in dieser Gesellschaft offensichtlich nicht angekommen.

Kleiner Exkurs: Sie selbst sind ja als Kind teilweise in Afghanistan aufgewachsen. Waren Sie dort verwurzelt?

Meine Freunde auf der Straße waren Afghanen, mit denen habe ich Farsi geredet. Aber ich konnte Farsi nicht schrei­ben, war auf einer deutschen Schule und lebte nur rund vier Jahre in Afghanistan. Ich fühlte mich dem Land sehr verbunden, aber faktischer Inländer war ich nicht.

Zurück zur Verhältnismäßigkeitsprüfung: Wann gilt das Land, für das jemand die Staatsbürgerschaft besitzt, aber dort nicht lebt, als unzumutbar fremdes Land?

Zum Beispiel, wenn jemand die Sprache dieses Landes auch nicht ansatzweise versteht, dort nie im Urlaub war und keine Familie dort hat. Das sind Umstände, die in der Abwägungsentscheidung gegen eine Abschiebung sprechen. Viele faktische Inländer sind aber zweisprachig aufgewachsen und haben zu Hause durchaus die Sprache ihrer Eltern gelernt.

Auf der anderen Seite der Abwägung steht die Gefahr, die von dem faktischen Inländer ausgeht. Ab wie vielen Jahren Freiheitsstrafe überwiegt das Ausweisungsinteresse?

Auch hier gibt es keine feste Grenze. Das Gesetz nennt als ein Indiz für ein besonders schwer wiegendes Aus­weisungsinteresse eine zweijährige Freiheitsstrafe. Für die Abwägung kommt es besonders auf die Gefahr in der Zukunft an, also auf eine Prognose.

Foto: picture alliance

Ulrich Maidowski, 60 Jahre, ist seit 2014 Richter am Bundesverfassungsgericht. Dort ist er unter anderem für Ausländer- und Asylrecht zuständig. Maidowski wurde auf Vorschlag der SPD nach Karlsruhe gewählt. Zuvor war er Richter am Bundesverwaltungsgericht in Leipzig. Als Sohn eines Lehrers lebte er als Kind zeitweise in Japan und Afghanistan.

Bei bloßen Gefährdern, die noch gar keine Straftat begangen haben, ist die Schwelle für eine Ausweisung recht niedrig …

Das sehe ich nicht so. Immerhin geht es hier um drohende Terroranschläge. Erforderlich ist eine hohe Wahr­scheinlichkeit, dass jemand am Anfang eines Weges steht, der bei Anschlägen enden kann. Die Indizien hierfür müssen deutlich sein und auf Tatsachen beruhen.

Es geht also nicht um eine hohe Wahrscheinlichkeit von Anschlägen?

Nein, das nicht, aber der Weg dahin kann heute ziemlich kurz sein. Islamistische Terroristen haben sich oft in wenigen Wochen so radikalisiert, dass sie zu einem Anschlag bereit waren. Wer plötzlich viele Tausende von Enthauptungs- und ähnlichen Videos auf dem Handy hat, könnte sich bereits als potenzieller Attentäter sehen.

Wenn solche Personen abgeschoben werden, gelten sie im Aufnahmestaat oft auch als Gefahr für die öffentliche Sicherheit …

Das stimmt. Die deutschen Gerichte prüfen deshalb genau, ob dort eine willkürliche Inhaftierung oder gar Folter droht. Wenn dies der Fall ist, verlangen wir vom Aufnahmestaat eine verbindliche Zusicherung, dass die Person dort rechtsstaatlich behandelt wird.

So eine Zusicherung wird ja nur von Staaten verlangt, die keine vorbildlichen Rechtsstaaten sind. Warum soll man ihnen glauben?

Das habe ich mich zunächst auch gefragt. Ehrlich gesagt, war ich sogar ziemlich skeptisch. Aber im diplo­matischen Verkehr sind solche Zu­sicherungen üblich und belastbar. Einem Staat, der eine derartige Zusicherung nicht einhält, wird im interna­tionalen Verkehr nicht mehr geglaubt.

Noch immer lässt das Bundesverfassungsgericht zu, dass nach Afghanistan abgeschoben wird. Haben Sie keine Zweifel an dieser Position?

Wir prüfen nicht selbst die Lage in Afghanistan, sondern kontrollieren nur, ob die Behörden und Verwaltungsgerichte ausreichend intensiv geprüft haben, ob eine Abschiebung nach Afghanistan vertretbar ist.

Haben Sie als Kenner Afghanistans nicht bessere Einblicke als die meisten Verwaltungsrichter?

Die Situation ist sicher komplex, und meine Zeit in Afghanistan liegt lange zurück. Ich bin wiederholt Afghanen begegnet, die zwischen beiden Ländern hin und her reisen. Natürlich sind Menschen, die abgeschoben werden, in einer vollständig anderen Situation. Deshalb gilt aus verfassungsrechtlicher Sicht: Jedes Gericht, das mit dieser Frage befasst ist, kann nur auf der Grundlage tagesaktueller Erkenntnisse zur Lage im Land und nach einem sehr genauen Blick auf jeden Einzelfall eine belastbare Entscheidung treffen.