Diskussion um Paragraf 218: Nachfolge ungeklärt
Frauen, die ungewollt schwanger sind, finden in Deutschland immer seltener Mediziner, die Abtreibungen durchführen. Eine Ärztin will das ändern.
Auch er selbst lange nicht. „Bin da reingeschlittert, nech.“ Burkart schiebt dieses Füllwort, wie so oft, nach. Eine seiner früheren Hebammen war schwanger geworden, ungewollt. Burkart gab ihr eine Adresse, wollte sie zu dem Arzt in Dortmund schicken, zu dem er Patientinnen immer schickte.
„Da hat sie sich an die Stirn getippt, gesagt, Burkart, du spinnst wohl, du bist mein Arzt, du operierst, und ich weiß, dass du das kannst.“ Burkarts Augen suchen etwas, an dem sie sich festhalten können, bis sie eine Packung Taschentücher finden. „Und da hatte sie natürlich komplett recht.“ 1981 sah er noch eine Frau sterben, die sich Seifenlauge in die Gebärmutter gespritzt hatte. „Ist von innen verblutet“, knurrt er. Und dann: „Es war für mich ein Prozess, zu begreifen, Schwangerschaftsabbrüche wird es immer geben.“
Doch immer weniger Ärztinnen und Ärzte in Deutschland führen sie durch. Wie das Statistische Bundesamt auf taz-Anfrage mitteilt, ist die Zahl in den vergangenen 15 Jahren um mehr als 40 Prozent gesunken. 2003 waren es noch 2.050 Einrichtungen, die dem Statistischen Bundesamt Abbrüche gemeldet haben, im dritten Quartal 2018 nur noch 1.173.
Bis zu 150 Kilometer Anfahrt
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In Trier müssen ungewollt Schwangere mehr als 100 Kilometer bis ins Saarland fahren, um eine Abtreibung zu bekommen. Im hessischen Fulda führt seit Jahren niemand Schwangerschaftsabbrüche durch, auch hier fahren die Frauen 80 bis 100 Kilometer weit. In Niedersachsen sind es je nach Region bis zu 150 Kilometer. In ländlichen und katholischen Gegenden, in Niederbayern etwa, ist die Lage noch dramatischer.
Seit Jahren weisen die Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen ihre Landesregierungen und Gesundheitsministerien auf diesen Mangel hin. Die jedoch reagieren meist nicht einmal. Dabei müssen die Länder nach dem Schwangerschaftskonfliktgesetz ein ausreichendes Angebot an Praxen und Kliniken für Schwangerschaftsabbrüche sicherstellen.
Einige Ärzt*innen übernehmen Abtreibungen nur für ihre eigenen Patientinnen. Andere machen ausschließlich medikamentöse Abbrüche, die nur bis zur 9. Woche nach dem Beginn der letzten Regel möglich sind. Wieder andere weigern sich, operative Abtreibungen bis zur 12. Woche vorzunehmen. Dadurch sinkt die Zahl der infrage kommenden Ärzt*innen weiter, und die Frauen erhalten ihren Termin, wenn überhaupt, immer später.
140 Abtreibungen im Quartal
Warum ist das so, was sind die Geschichten hinter den Zahlen?
„Es will sich niemand die Finger schmutzig machen, nech?“, hatte Burkart gesagt. Man müsse damit in Berührung kommen, sonst fange man nicht an. So wie er selbst wegen seiner Hebamme. Danach hat er auch Abtreibungen für seine eigenen Patientinnen gemacht. Und schließlich hätten Kollegen ihre betroffenen Frauen zu ihm, zum Burkart, geschickt. „Plötzlich hatte ich nicht mehr drei und sieben Abbrüche im Quartal, sondern 140.“
Früher gab es mehrere wie ihn: Ärzte, die „reingeschlittert“ sind, die es einfach gemacht haben. Aus Pragmatismus, ohne sich politisch zu positionieren. Und es gab die anderen, die Idealisten, die es machen wollten.
Wie die Gießener Allgemeinmedizinerin Kristina Hänel, die berühmt wurde, weil sie auf ihrer Website darüber informiert, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführt, und deshalb zu einer Geldstrafe von 6.000 Euro verurteilt wurde. Verurteilt nach Paragraf 219a, der Werbung für einen Schwangerschaftsabbruch verbietet, aber auch dann greift, wenn Ärzt*innen nur sachlich über ihr Angebot informieren.
Immer noch illegal
Auch der Schwangerschaftsabbruch an sich ist nach Paragraf 218 des Strafgesetzbuchs noch immer illegal und kann mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren geahndet werden. Er bleibt jedoch straffrei, wenn ungewollt Schwangere sich haben beraten und drei Tage Bedenkzeit haben verstreichen lassen und wenn der Abbruch in den ersten zwölf Wochen nach der Empfängnis von einem Arzt vorgenommen wird.
„Man spürt regelrecht, wie die Politik sich gewunden hat. Wie sie nicht zugeben konnte, dass es den Schwangerschaftsabbruch braucht. Das Verbot sollte unbedingt im Gesetz stehen.“ Was aus Burkarts Mund in den weißen Schnauzbart hineinplätschert, ist nicht immer einfach zu verstehen.
„Es wäre viel klüger gewesen, zu sagen, der gewollte und von einem Doktor vorgenommene Schwangerschaftsabbruch ist bis zur 14. Woche erlaubt, und alle anderen Fälle sind verboten. Er wäre legalisiert, eine Frau bräuchte sich nicht zu schämen, und ein Doktor müsste keine Angst vorm Gefängnis haben.“
Zwar steigt die absolute Zahl von Ärzt*innen in Deutschland immerfort, gleichzeitig nimmt in einer Gesellschaft des langen Lebens aber auch der Behandlungsbedarf zu. Insgesamt gibt es zu wenige Mediziner*innen. Wenn die Ärzt*innen aus der Babyboomergeneration nach und nach in Rente gehen, verschärft sich dieser Mangel noch.
Nach Ansicht des Marburger Bunds, dem Verband der angestellten Ärzte, setzt sich ein weiterer Trend fort: Ärzt*innen lassen sich immer seltener nieder, sondern arbeiten als Angestellte in Kliniken, großen Praxen und medizinischen Versorgungszentren. Dort entscheidet dann der Chefarzt, ob abgetrieben wird oder nicht.
„Moralischer Zeigefinger“
Früher lohnte sich der Schwangerschaftsabbruch zumindest finanziell noch einigermaßen. Als Burkart anfing, bekam er für einen Abbruch 360 D-Mark, heute sind es noch 112 Euro. Gleichzeitig steigen die Anforderungen an das ambulante Operieren und die Kosten enorm. Abgesehen davon aber hat sich noch etwas verändert, sagt Burkart.
Er spricht vom „moralischen Zeigefinger der Gesellschaft“, und die Schnauzbarthaare flattern in der Atemluft, die er dabei ausstößt, wie eine Girlande im Wind. „100 Prozent der Frauen, die zu mir kommen, haben Vorurteile und Schuldgefühle. Sie glauben, danach nicht mehr schwanger werden zu können, sie schämen sich, dass ihnen ‚so etwas‘ passiert ist.“
Burkart schüttelt den Kopf. „Ich habe alle Frauen dabei, von 12 bis 54, von religiös bis atheistisch, von unverheiratet bis 5-fach-Mutter, und sie kommen alle mit den gleichen Vorbehalten.“ Im Juni wird Burkart aufhören. Und weiß nicht, wie es für ungewollt Schwangere in Münster weitergeht.
An einem heißen Tag Ende August zieht Svenja Addicks ihre Knie zu sich heran, stellt die nackten Füße auf den Sessel, sagt: „Morgen lerne ich Wolfgang Burkart kennen.“ Sie sitzt in dem Zimmer einer Mitbewohnerin, das gerade frei ist, so etwas passiert in einer 9er-WG. Svenja Addicks ist nicht der wirkliche Name der jungen Frau in dieser Geschichte.
Addicks hat lange mit sich gerungen, dann aber entschieden, dass ihr richtiger Name nicht erwähnt werden soll, der taz ist er aber bekannt. Sie rechnet mit Anfeindungen, mit Hass, der ihre sonstige politische Arbeit beeinträchtigen würde. Denn Svenja Addicks, 29, ist Ärztin – und will Abtreibungen machen. Die Not ist groß, nicht nur in Münster, sondern auch in Bremen, wo sie wohnt. Dort betreibt Pro Familia eines von vier medizinischen Zentren in Deutschland. 80 Prozent aller Abtreibungen in Bremen werden dort durchgeführt.
Als die Holländer wegblieben
Jahrzehntelang arbeitete das Zentrum mit Ärzten aus den Niederlanden zusammen. Doch auch die bleiben mittlerweile lieber dort, weil das gesellschaftliche Klima besser ist und die Bezahlung auch. Als sie niemanden für das Bremer Zentrum fanden, schrieb die Geschäftsführerin von Pro Familia mehr als 700 Ärzt*innen an, keiner von ihnen antwortete darauf. Sie schrieb auch an den Verteiler der „Kritischen Mediziner*innen“. Und diese Mail las Svenja Addicks.
Wenige Wochen zuvor hatte Addicks eine Veranstaltung der Gruppe in Frankfurt besucht und dort Kristina Hänel reden gehört. „Sie hat von der Unterversorgung in Deutschland gesprochen, auf uns eingewirkt, es zu lernen, Tutor*innen zu suchen, die es uns beibringen“, erzählt Addicks. Als die Mail von Pro Familia bei ihr einging, schrieb sie zurück.
„Und jetzt gibt es einen Plan“, sagt sie. Zwei Ärzte bilden Addicks aus. Sie überbrücken so den schlimmsten Versorgungsengpass in Bremen und bringen gleichzeitig einer jungen Ärztin bei, wie es geht. Einer der Ärzte ist Wolfgang Burkart aus Münster. Er ist mittlerweile Rentner, zweimal in der Woche fährt er die 170 Kilometer bis nach Bremen, um dort Nachwuchsarbeit zu machen.
Bei ihm in Münster hat sich noch niemand gefunden, der Abtreibungen durchführt. Der andere Arzt, der Addicks ausbildet, ist Dirk Boumann, ein Holländer, der jahrzehntelang im Bremer Zentrum gearbeitet hat und auch aus der Rente zurückkehrte. Ohne die beiden hätte der Betrieb dort eingestellt werden müssen.
Addicks will den Abortion Doctor machen; hat sich die Ausbildung, die es in dieser Form nur in den Niederlanden gibt, selbst organisiert. Ein standardisierter OP-Katalog sieht vor, wie viele Eingriffe ein Abtreibungsarzt in welchen Schwangerschaftswochen durchgeführt haben muss, bevor er schließlich eine Prüfung ablegt. Zwei Tage die Woche ist Addicks nun im Bremer Zentrum tätig, macht bis zu 15 Abtreibungen am Tag.
Im Studium wurde Abtreibung nicht gelehrt
Ab 2009 studierte Addicks in Lübeck Medizin. „Da war der Schwangerschaftsabbruch praktisch kein Thema.“ Mal eine Folie zur rechtlichen Situation, mehr nicht. „Das ist doch verrückt, ich studiere Medizin und nicht Jura.“ Will sie sich über die medizinischen Methoden informieren, geht das nicht auf Deutsch: „Es existieren überhaupt keine medizinischen Leitlinien zum Schwangerschaftsabbruch. Normalerweise gibt es Vorgaben für jeden Eingriff, nur dafür nicht.“
Bereits 2014 hatte Pro Familia das in einem Rundbrief kritisiert. Addicks ist überzeugt: „Das hängt damit zusammen, dass der Schwangerschaftsabbruch illegal ist. Das schränkt die Forschung ein, die Ausbildung, die Weiterbildung.“
Deutsche Mediziner*innen müssen auf englischsprachige Leitlinien gynäkologischer Fachgesellschaften und der WHO zurückgreifen, die aber nicht alle vollständig übertragbar sind. Sogar in der gynäkologischen Weiterbildung hat der Schwangerschaftsabbruch nur wenig Platz. Der medikamentöse Schwangerschaftsabbruch etwa wird in allen 17 Weiterbildungsinhalten der Landesärztekammern nicht erwähnt. Wie die Vakuumaspiration, die Absaugmethode.
„Die holländischen Ärzte bekommen deshalb regelmäßig die Krise“, sagt Svenja Addicks. Seit den 1980er Jahren geht aus englischsprachiger Literatur hervor, dass die Absaugmethode die für die Gebärmutter wesentlich schonendere Variante ist. „In Deutschland ist sie immer noch nicht der offizielle Standard.“ Stattdessen wird bei knapp 15 Prozent der Abbrüche noch immer ausgeschabt.
Als die Musterweiterbildungsordnung der Bundesärztekammer im vergangenen November novelliert und vom Deutschen Ärztetag beschlossen wurde, änderte man an den Passagen zum Schwangerschaftsabbruch – nichts. Auf Nachfrage der taz erklärt ein Sprecher der Bundesärztekammer, alle Möglichkeiten des Schwangerschaftsabbruchs seien in den Weiterbildungsinhalt „Beratung bei Schwangerschaftskonflikten“ einzugliedern. Es sei aber geplant, die Weiterbildungsinhalte in einem „fachlich empfohlenen Weiterbildungsplan“ zu spezifizieren.
Chefärzte entscheiden
In Deutschland ist es jedem Arzt und jeder Ärztin freigestellt, ob sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen oder nicht, auch jedem Gynäkologen. „Zu einer illegalen Leistung kann niemand gezwungen werden“, sagt Addicks. „Das gibt es nur beim Schwangerschaftsabbruch.“ Kann ein Arzt Blinddarmentfernungen rundheraus ablehnen? Natürlich nicht. „Das muss man sich mal vorstellen“, sagt Addicks und setzt ihre Füße auf den Boden zurück, „Chefärzte von Unikliniken können entscheiden, prinzipiell keine Abbrüche zu machen.“
Ein Piepsen von der Tür. „Kassette zu Ende“, lispelt Addicks’ dreijährige Tochter. Addicks geht hinaus, um auf die andere Seite von „Oh, wie schön ist Panama“ zu wechseln. Als sie wieder sitzt, sagt sie: „Seit ich eine Tochter habe, weiß ich noch viel besser, was für eine lebensverändernde Entscheidung das ist. Wenn eine Frau die nicht selbstbestimmt treffen kann, gibt es niemals Gleichberechtigung.“
Doch empfinden das die meisten Menschen so wie Addicks? In einer Umfrage des Leibniz-Instituts für Sozialwissenschaften sprachen sich 2012 gerade mal 41 Prozent der Befragten dafür aus, dass ein Schwangerschaftsabbruch auf Wunsch der Frau gesetzlich möglich sein sollte, unabhängig von sonstigen Gründen. 59 Prozent waren dagegen.
Das Marktforschungsunternehmen Ipsos führte im Jahr 2016 eine europaweite Onlinestudie zu Abtreibungen durch, 50 Prozent in Deutschland stimmten für die Entscheidungsfreiheit der Frau. In Spanien waren es 59, in Frankreich 69, in Schweden 84 Prozent. Nur in Polen war der Anteil mit 33 Prozent noch geringer als in Deutschland.
Für angehende Ärzt*innen kommt also reichlich viel zusammen: Sie wurden nicht vernünftig darin ausgebildet, Abtreibungen zu machen. Absolvieren sie ihre Weiterbildung in einer Klinik mit kirchlichem Träger, kommen sie womöglich nie mit Schwangerschaftsabbrüchen in Berührung. Finanziell lohnt es sich längst nicht mehr. Karriere machen Abtreibungsärzte nicht, der Makel bleibt haften, auch innerhalb der Ärzteschaft.
Abtreibungsgegner machen mobil
Und auch die Gesellschaft honoriert es nicht. Der von links angestoßene Wertewandel seit Ende der 1960er Jahre drückte sich lange in feministischen Initiativen aus, das Recht auf Abtreibung gehörte immer dazu. Doch seit diesen sechziger Jahren ist der Stimmenanteil rechtspopulistischer Parteien in Europa von unter 5 auf durchschnittlich 14 Prozent gestiegen. Als Abwehrreaktion, als „kultureller Backlash“ gegen von links forcierte Werte – auch gegen freie Abtreibungen. Abtreibungsgegner sind weltweit vernetzt, von den USA über Russland bis nach Europa.
In Deutschland stopfen sie Plastikföten in Briefkästen von Praxen. Systematisch überziehen sie Ärzt*innen mit Anzeigen nach Paragraf 219a und führen eigene Listen von „Tötungsspezialisten“. Sie spazieren mit weißen Kreuzen durch Städte, halten Plakate mit zerstückelten Föten in die Höhe, vergleichen Abtreibungen mit dem Holocaust.
Einmal im Monat standen sie auch vor der Praxis von Wolfgang Burkart in Münster, anfangs direkt vor seiner Tür. Bedrängten alle, die ein und aus gingen. Sprachen sie an, machten ihnen Vorwürfe. Burkart rief die Polizei, die verbannte die Gruppe auf die gegenüber liegende Promenade. Dort standen sie dann und machten weiter.
Im Dezember lernt Svenja Addicks in Bremen die 28-jährige Medizinstudentin Valerie Graf kennen; auch deren Name ist eigentlich ein anderer. Die beiden Frauen kommen ins Gespräch. Valerie erzählt Svenja, sie könne sich vorstellen, später in der Gynäkologie zu arbeiten. Schwangerschaften abzubrechen, nein, das nicht. Svenja ist entsetzt. Und Valerie findet es krass, dass Svenja seit nunmehr vier Monaten nichts anderes macht.
„Ich habe nicht Medizin studiert“, sagt Valerie Graf einige Wochen später am Telefon, „um nur mit dem Töten zu tun haben.“ Vor ihrem Medizinstudium an der Uni Witten/Herdecke im Ruhrgebiet hat Graf eine Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin absolviert, währenddessen auch Abtreibungen erlebt. Privat begleitet es sie länger. „Mehrere Freundinnen von mir hatten Abbrüche. Eine hat lange gebraucht, um damit fertigzuwerden.“
„Ich möchte nicht die Henkerin sein“
Vor jedem Satz, den sie sagt, überlegt Graf. Sie wählt ihre Worte mit Bedacht und scheint sie, wenn sie spricht, erneut zu hinterfragen. Nur selten findet sie drastische Worte, einmal sagt sie: „Ich möchte nicht die Henkerin sein.“ Graf, das ist bald zu merken, unterscheidet zwischen ihrer Rolle als Frau und der als Ärztin. „Es gibt Situationen, in denen eine Frau keinesfalls ein Kind möchte. Das kann ich absolut verstehen. Ich hätte während des Abiturs auch keines gewollt, habe aber eben auch doppelt und dreifach aufgepasst.“
Sie sagt, es gebe so viele Möglichkeiten, eine Schwangerschaft zu verhindern. Sie sagt auch, dass jeder Mensch das Recht haben muss, über seinen Körper frei zu entscheiden – und relativiert den Satz gleich wieder: „Selbstbestimmung ist nicht alles. Im Leben geht es um mehr, um Verantwortung, Respekt vor dem Leben. Ist zum Beispiel die Karriere wirklich ein Argument gegenüber einem Menschenleben?“, fragt sie und betont bei dem letzten Wort jede Silbe. Sie sagt, seit dem Gespräch mit Svenja habe sie viel nachgedacht.
Es müsse Schwangerschaftsabbrüche geben, das unterstreicht sie dann noch einmal. Aber sie als Ärztin würde sie nicht machen wollen, vielleicht in Ausnahmefällen. „Vielleicht, wenn ich es wirklich nachvollziehen kann bei einer Patientin, die ich lange begleitet habe. Aber ich möchte nicht, dass eine Frau dafür zu mir kommt, ich will nicht diejenige sein, die Leben beendet. Denn das ist es, was ich tue: Ich töte.“
Als Frau will sie frei über etwas entscheiden können, wofür sie als Ärztin nicht die Verantwortung tragen möchte. Aber wenn letztlich niemand mehr damit leben kann und jeder Arzt sein eigenes Seelenheil über das einer medizinischen Notwendigkeit stellt? „Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen.“ Wenn nun aber sie selbst keine Ausnahme ist, sondern auch andere so denken? „Das wäre schlecht“, sagt Graf und schweigt eine Weile. Das wäre für sie ein Argument, es vielleicht doch zu tun.
Ob sie mit ihrem richtigen Namen in der Geschichte auftauchen wolle? „Nein, lieber nicht“, sagt sie und ruft dann plötzlich aus: „Da sieht man es: Ich will das vermutlich aus dem gleichen Grund nicht, aus dem auch immer weniger Ärzte Abbrüche machen wollen – dieses furchtbare gesellschaftliche Tabu.“ Ob ihre Freundin nicht vielleicht auch deshalb so lange unter der Abtreibung gelitten hat? Studien belegen schließlich, dass es nicht der Eingriff an sich ist, der schmerzt, sondern die gesellschaftliche und gesetzliche Gängelung danach. „Es ist wohl beides“, sagt Graf.
Es ist kurz vor Weihnachten, einige Wochen nach dem Zusammentreffen von Svenja Addicks und Valerie Graf. Addicks sitzt in einem warmen Besprechungsraum des medizinischen Zentrums in Bremen, das sich im Untergeschoss eines stuckverzierten Altbaus befindet.
1:1-Betreuung für den Abortion Doctor
Sie hat die Beine unter einem offenen türkisfarbenen Kittel übereinandergeschlagen, ihre Haare zu einem Dutt zurückgesteckt. Seit vier Monaten lernt Addicks nun, wie man abtreibt. Schon kurz nach den ersten Eingriffen, bei denen sie nur zuguckte, führte sie selbst Abbrüche durch, immer unter Anleitung von Wolfgang Burkart und Dirk Boumann. „So eine 1:1-Betreuung gibt es sonst nirgendwo“, sagt Addicks. „Ich bin begeistert von der Arbeit, dem Team, den Gesprächen mit den Frauen.“ Sie hat Weiterbildungen zu Verhütungsberatung besucht, lernt weit mehr als nur den Schwangerschaftsabbruch an sich.
Eine Mitarbeiterin kommt herein, steuert auf Addicks zu. „Eine Frau ist jetzt da“, sagt sie. Addicks erhebt sich schwungvoll und geht hinaus.
Dirk Boumann, der zweite Ausbilder, der ihr bis eben gegenübersaß, blickt ihr nach, wohlwollend, sagt dann: „Svenja ist vorsichtig und gleichzeitig mutig, es macht Spaß mit ihr.“ Boumann hat den Abortion Doctor als Curriculum in den Niederlanden einst mitinitiiert. Als Schwangerschaftsabbrüche noch illegal waren, gründete er mit anderen Ärzt*innen, die abtrieben, eine Genossenschaft.
Sie organisierten sich, lieferten wissenschaftliche Belege für ihre Arbeit, reichten sie an die Politik weiter. Heute kann sich jeder Arzt in Holland zum Abortion Doctor weiterbilden lassen. „Das ist einmalig“, sagt er. „Zwischen 30 und 40 Leute sitzen beisammen, lernen gemeinsam, wie man abtreibt.“ Das verhindert Versorgungsengpässe wie in Deutschland.
Einst arbeitete Boumann in einer in den Niederlanden gängigen Abortion Clinic in Groningen, bevor er ins Medizinische Zentrum von Pro Familia nach Rüsselsheim wechselte. Svenja Addicks ist nicht die Erste, die er ausbildet. Seine prominenteste Schülerin von damals: Kristina Hänel. Sie sind so wenige, dass sie sich alle untereinander kennen. „Dabei wäre es so wichtig, dass jeder Mediziner in seiner Ausbildung sich mal anguckt, was wir machen. Man kann nicht nur Kinder auf die Welt holen“, sagt Boumann.
Der Druck der gut organisierten Abtreibungsgegner nehme sogar im liberalen Holland zu, berichtet der 70-Jährige. „Niemand weiß, was von denen noch zu erwarten ist.“ Mit seinem weißen Lockenschopf, dem breiten Kiefer und einer hochstehenden Nase sieht Boumann aus wie ein ältlicher Rockstar. Einer, dem sie nichts anhaben können, diese Leute. Aber Dirk Boumann sagt: „Ein Kampf wie dieser ist nie zu Ende gekämpft. Er bleibt immer in Bewegung.“
An Boumanns rechter Seite sitzt Sabine Ruppert, Krankenschwester im Medizinischen Zentrum, „Abbruchschwester“, wie sie selbst, mit den Fingern Anführungszeichen setzend, sagt. „Svenja ist die Zukunft unseres Zentrums. Eine junge Ärztin, die sich so positioniert und engagiert, ist gerade im Moment selten.“ Auch weil sich am Paragrafen 219a wohl nichts ändern wird. Nachdem SPD und CDU ein Dreivierteljahr darüber diskutiert hatten, stellten sie im Dezember ein Eckpunktepapier vor, das den 219a, so wie er ist, erhalten will.
Nur die Städtischen Kliniken in Bremen
Gleichzeitig soll es offizielle Listen geben, auf denen die Länder die Einrichtungen aufführen, die Abbrüche durchführen. Noch im Januar soll ein Gesetzentwurf folgen. In Bremen wollten sich von 130 angefragten Praxen und Kliniken nur die Städtischen Kliniken auf die Liste setzen lassen. „Ergo: Bringt überhaupt nichts“, sagt Ruppert. „Die Ärzte haben dieselbe Angst vor Anzeigen wie vorher.“
Svenja Addicks kehrt zurück. „Und?“, fragt Boumann, Svenja lächelt. „Eine fertig und eine für dich.“ Sie reicht ihm Unterlagen, und Boumann geht hinaus.
Hat die Arbeit sie verändert? „Ich bin emotionaler geworden“, räumt sie ein, „früher habe ich Abtreibungsgegner als Irre abgetan. Heute machen sie mich wütend. Es heißt immer: Kannst du dir vorstellen, ungeborenes Leben zu töten? Niemand fragt: Möchtest du das Selbstbestimmungsrecht der Frau stärken?“
Boumann, Burkart und auch Kristina Hänel dagegen kommen aus einer Generation, in der das Recht auf Abtreibung als ein Frauenrecht überhaupt erst erkämpft wurde. „Heute halten es viele jüngere Ärzte für eine Selbstverständlichkeit, dass es das gibt, und bieten es deshalb selbst nicht an“, sagt Ruppert. Andere hätten in der Gynäkologie so viel mit Kinderwunschbehandlungen, Fehlgeburten und langen Leidensgeschichten zu tun, dass sie wohl deshalb weniger Verständnis für Abtreibungen hätten. „Dabei hat das alles nichts miteinander zu tun“, sagt Addicks. „Viele Ärzte möchten eine schöne Arbeit machen, nicht unbedingt eine politische.“
Ruppert sagt: „Sie wollen Karriere machen, eine Möglichkeit, die es für einen Abbrucharzt nicht gibt.“ Addicks: „Gerade in Gesundheitsfragen bekommt heute jeder eingetrichtert, für sich selbst verantwortlich zu sein, sich gesund zu ernähren, Sport zu treiben. Und dazu gehört auch: gefälligst vernünftig zu verhüten.“ Ruppert nickt: „Dann heißt es, wer das heute nicht schafft, sei selbst schuld. Dafür wollen viele Ärzte nicht mehr ihren Ruf riskieren.“ „Die haben dann das Teenagermädel im Kopf, das nicht aufgepasst hat“, sagt Addicks, „dabei ist das der seltenste Fall. Aber wenn eine Frau ihr drittes Kind noch stillt, verstehe ich, wenn sie kein viertes will.“
Schwangerschaftsabbruch in den Lehrplan
Als im Frühjahr Wolfgang Burkarts Berufsende absehbar war, setzte Pro Familia Münster mehrere Hilferufe ab. Organisierte Veranstaltungen, auf denen auch Burkart sprach. Ein 82-Jähriger reiste an, um den ungewollt Schwangeren zu helfen. Dann erklärten sich zwei Ärztinnen bereit, Abtreibungen in ihren Praxen zu machen.
Junge Mediziner*innen melden sich bei Kristina Hänel, fragen, ob sie es ihnen beibringen könne. Studierendengruppen und kritische Mediziner*innen vernetzen sich. An der Berliner Charité haben die Medical Students For Choice erreicht, dass der Schwangerschaftsabbruch verstärkt in ihren Lehrplan aufgenommen wird. Und Svenja Addicks, mit 29 Jahren noch ganz am Anfang ihres Berufslebens, riskiert ihren Ruf. Sie macht Abtreibungen.
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