Buch „Geistig-moralische Wende“: Auf Dauer gestellt
Ist der deutsche Konservatismus in der Krise? Der Politologe Thomas Biebricher analysiert in seinem neuen Buch Erfolg und Erschöpfung desselben.
Als Angela Merkel im vergangenen Jahr auf dem Hamburger CDU-Parteitag ihre Abschiedsrede als Vorsitzende hielt, kam sie auf den Erfolg des deutschen Konservatismus zu sprechen, der sich an fünfzig Jahren Regierungsbeteiligung auf Bundesebene festmachen ließe. Wie es dazu kommen konnte? „Weil wir immer wussten, dass konservativ nicht von Konserve kommt, sondern davon, zu bewahren, was uns stark macht, und zu verändern, was uns hindert“, so fasste die Bundeskanzlerin das Profil der Unionsparteien zusammen.
Das ist eine bemerkenswerte Aussage, weil sie den zentralen Widerspruch des politischen Konservatismus zwischen Bewahrung und Veränderung auf den Punkt bringt und weil sie dies als großen Erfolg präsentiert – zu einem Zeitpunkt, an dem mit der Etablierung der AfD in Teilen der Unionsparteien helle Panik ausgebrochen ist und auch Grüne wie Winfried Kretschmann für eine neue Idee des Konservativen werben.
Ist also der Konservatismus in einer Krise? Dieser Frage widmet sich der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher, der mit seinem Buch „Geistig-moralische Wende. Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus“ eine kenntnisreiche Studie der jüngeren Geschichte des hiesigen konservativen Denkens und Handelns vorgelegt hat.
Zur Beantwortung der Frage, was eigentlich konservativ sei, greift Biebricher auf den irisch-britischen Liberalen Edmund Burke zurück, der als erbitterter Gegner der Französischen Revolution erstmalig ein Programm des Konservatismus umriss. Burke stand deutlich vor Augen, dass eine konservative Position keineswegs bloß bewahrend sein könnte; eine solche Haltung wäre nicht in der Lage, sich verändernden Bedingungen anzupassen.
Herausforderung für den Neokonservatismus
So habe schon Burke die inhaltsfreie Kunst der Moderation widersprüchlicher Positionen zu einer konservativen Kernkompetenz erhoben, schreibt Biebricher. Unschwer ist in dieser Maxime schon das Merkel’sche Auf-Sicht-Fahren der letzten Jahre angelegt. Burke begreift die Gesellschaft vor allem als einen Zusammenhang von Institutionen, nicht von Individuen. Folgerichtig verteidigt er die Macht der Institutionen, die Privatverfügung über Produktionsmittel sowie den Einfluss der Kirche. Seit Burkes Zeiten sei man von konservativer Seite dem Kapitalismus grundsätzlich wohlgesonnen, bei einiger „Restreserviertheit gegenüber seinen Auswirkungen“, so Biebricher.
Als Anatomie des Konservatismus ließe sich also der Erhalt der gesellschaftlichen und ökonomischen Ordnung bei gleichzeitiger moralisch-affektiver Regierung der Bevölkerung bezeichnen. In der Folge analysiert Biebricher das konservative Denken der Nachkriegszeit in Westdeutschland anhand von Protagonisten wie Helmut Schelsky, Odo Marquard, Arnold Gehlen, Hermann Lübbe und Ernst Nolte.
Dieser Neokonservatismus fühlte sich insbesondere durch die Kulturrevolution von 1968 herausgefordert und führte dementsprechend vor allem mit Schülern der Kritischen Theorie wie Jürgen Habermas öffentliche Debatten wie den sogenannten Historikerstreit. Als Helmut Kohl 1982 die Regierung übernahm, versuchte er eine Wende auf geistig-moralischem Gebiet zu initiieren. Der Geist von 1948, die Opferbereitschaft des Wiederaufbaus, sollte gegen den von 1968 mobilisiert werden. Das erwies sich als Ideologem von Dauer, noch auf dem Leipziger CDU-Parteitag 2003 beschwor Merkel den „Geist der Gründerjahre“.
Letzte Bastion „Hausaufgaben“
Von besonderer Wichtigkeit ist Biebrichers Analyse der jüngsten Erschütterungen des Konservatismus. Es ist für ihn vor allem die Finanz- und Wirtschaftskrise, die den Konservatismus und seine Vorstellung vom Kapitalismus als Tugendschule erheblich in Mitleidenschaft gezogen hat. Um die deutschen Banken zu retten, mussten alle Glaubenssätze des Konservatismus über Bord geworfen werden.
Erst in der europäischen Staatsschuldenkrise versuchte man sich wieder mit der traditionellen Moralisierung und warf anderen Ländern vor, ihre „Hausaufgaben“ nicht gemacht zu haben, was angesichts des Handelns der deutschen Finanzindustrie doch einigermaßen befremdlich wirkte. Der Konservatismus zog sich so auf sein letztes Feld zurück, die strenge Haushaltsdisziplin als zentrale Tugend.
Dass diese Position auch über konservative Kreise hinaus kaum in Frage gestellt wird, muss man wohl als den eigentlichen Erfolg der Konservativen begreifen – auch seine Gegner auf das eigene Feld von alternativloser Ökonomie und repressiver Moral gezwungen zu haben. Dass er sich damit zugleich erschöpft hat, ist eine Folge, die wiederum den autoritären Rechten den Weg ebnen könnte.
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