piwik no script img

gesundheitMedizin nach Postleitzahl

Warum man in Bayern lieber keine Knieschmerzen und in der Rhön besser kein Bauchweh haben sollte

Ute Schendel

Bernd

Hontschik

war Oberarzt an der Chirurgischen Klinik am Städtischen Krankenhaus Frankfurt am Main-Höchst und betrieb eine chirur­gische Praxis in der Frankfurter Innenstadt. Er ist Heraus­geber der Taschenbuchreihe „medizinHuman“ im Suhrkamp Verlag und schreibt Kolumnen für die Frankfurter Rundschau.

Vor dreißig Jahren veröffentlichte die US-amerikanische Medizinjournalistin Lynn Payer verblüffende Erkenntnisse über den Vergleich der Medizin in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und den USA. Sie fand heraus, dass nirgends so viele Herzen krank sind wie in Deutschland, dass nirgends so viele Darmerkrankungen wie in Großbritannien diagnostiziert werden, dass es nirgends so viele Medikamente gegen Erkrankungen der Leber gibt wie in Frankreich und dass nirgends so viele Herzkatheteruntersuchungen durchgeführt werden wie in den USA. Die gleichen Symptome werden in Frankreich so und in Deutschland ganz anders gedeutet. Die gleichen Krankheiten werden in den USA so und in Großbritannien ganz anders behandelt. Payers Schlussfolgerung lautete: Die Medizin kennt keine Objektivität. Zwar ist es sowieso fraglich, welche Rolle „Objektivität“ in der Medizin überhaupt spielt. Die Medizin ist keine objektive, sie ist keine Naturwissenschaft, sondern sie verwirklicht sich in der Anwendung, in einer Beziehung. Dass die Medizin aber auch eine spezifisch nationale Angelegenheit ist, erregte großes Aufsehen. Payer versuchte, diese Differenzen zunächst mit unterschiedlichen medizinischen Traditionen zu erklären. Andere Besonderheiten konnte sie auf unterschiedliche Vergütungssysteme zurückführen. Außerdem postulierte sie noch eine weitere, eher unbestimmte Ursache, die sie „nationale Eigenheiten“ nannte.

Es gibt aber auch innerhalb der Nation erstaunliche Unterschiede. In Lüchow-Dannenberg werden vier- bis fünfmal mehr Bypass-Operationen vorgenommen als in Nordfriesland, in Jena oder im Schwarzwald. In Ravensburg wird doppelt so oft an der Prostata operiert wie im Allgäu. In Aurich wird die Gebärmutter nur halb so häufig entfernt wie im unmittelbar benachbarten Emsland. Leistenbruchoperationen sind an der Mosel viel häufiger als in Regensburg. Am Wurmfortsatz des Blinddarms wird in der Rhön viermal öfter operiert als in Frankfurt am Main. Pro 10.000 Kinder werden zwischen 14 und 109 Gaumenmandeln operiert, und in Passau dreimal häufiger als in München. Pro 10.000 Einwohner werden zwischen 73 und 214 künstliche Kniegelenke implantiert, nirgends so häufig wie in Bayern.

Diese Aufzählung ließe sich noch weiter fortsetzen. Der Grund für diese seltsamen Differenzen kann nicht in unterschiedlichen medizinischen Traditionen liegen, denn das alles spielt sich zur gleichen Zeit im selben Deutschland ab. Auch das Vergütungssystem ist überall in Deutschland gleich und erklärt solche Unterschiede nicht. Es muss also etwas mit speziellen Qualifikationen oder Vorlieben der handelnden Ärzt*innen vor Ort zu tun haben.

So könnte man beispielsweise meinen, zwischen 2007 und 2012 sei in Deutschland eine Rückenschmerz-Epidemie ausgebrochen. Die Zahl der Krankenhausaufenthalte wegen Rückenschmerzen stieg in dieser Zeit um mehr als 70 Prozent an, und die Zahl der Rückenoperationen stieg von 452.000 auf 772.000 an, also auch um mehr als 70 Prozent. Dieses Phänomen betrifft das ganze Land und ist die Folge eines neuen Vergütungssystems, einer überaus guten Bezahlung dieser Diagnose und dieser Operationen. Das aber erklärt noch nicht, warum sich ein Epizentrum dieses diagnostischen und operativen Erdbebens ausgerechnet in und um Fulda findet. Dort ist eine Hochburg für Rückenoperationen entstanden, sozusagen ein Leuchtturm des operativen Furors. Mit unglaublichen Operationszahlen ragt dieses Gebiet in Nord- und Osthessen und dem benachbarten Westthüringen aus dem bundesdeutschen Durchschnitt hervor. In und um Fulda werden 13-mal so viele Eingriffe am Rücken vorgenommen wie etwa in Frankfurt an der Oder. Im bundesdeutschen Durchschnitt werden pro Jahr 199 Bandscheibenoperationen bei 100.000 Einwohnern durchgeführt. In und um Fulda aber sind es weit über 500.

Entscheidet also womöglich der Wohnort dar­über, ob operiert wird oder nicht? Gilt das auch für andere Operationen, nicht nur für solche am Rücken? Diese lokalen Ausreißer sind natürlich nicht die Folge einer Epidemie. Es ist vielmehr das Bezahlsystem, das Ärzt*innen lockt, ihre spezielle Qualifikation, hier die der Rückenoperation, so zu expandieren, dass ein gigantisches Geschäft daraus wird. Wenn es für eine solche „Epidemie“ weder medizinische noch historische Ursachen gibt, dann bleibt nur eine Möglichkeit: Man muss der Spur des Geldes folgen. Wenn sich für lokale Häufungen keine medizinischen Begründungen finden lassen, dann sind es die ökonomischen Zusammenhänge, die das erklären können.

Es ist völlig sinnlos, an Moral oder an Ethos der Handelnden in der Medizin zu appellieren

Bei dieser Ausgangslage ist es völlig sinnlos, an Moral oder an Ethos der Handelnden in der Medizin zu appellieren. Und auch umgekehrt ist es eine Sackgasse, nach den mündigen Patient*innen zu rufen, die sich vor solchen Exzessen zu schützen wissen. Da müssten die Patient*innen schon ein Medizinstudium absolvieren, oder was soll sonst mit „mündig“ gemeint sein? Es gäbe nur einen Ausweg aus diesem Dilemma, wenn man nämlich all die diagnosebezogenen Vergütungssysteme auf den Prüfstand stellen würde. Solche Systeme vergüten nicht einfach nur die medizinische Leistung, sondern sie produzieren sozusagen aus sich selbst heraus immer mehr Leistungen, um sie sich dann entsprechend vergüten zu lassen. Mit Medizin hat das nichts zu tun. Am Beispiel der Rückenoperationen sieht man sehr deutlich, dass man Ärzt*innen braucht, die ohne monetäres Interesse für gute Medizin stehen. Man kann als Patient*in noch so viel im Internet surfen, in Büchern nachlesen oder herumfragen. Wenn es darauf ankommt, muss man sich aber darauf verlassen können, dass eine ärztliche Beratung, dass ein medizinischer Eingriff ohne jeden monetären Hintergedanken stattfindet. Die derzeitigen Vergütungssysteme bewirken aber genau das Gegenteil.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen