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Vertreibung der Junkies mit klassischer Musik

Vor 17 Jahren drehte sich in Hamburg die politische Diskussion nur um das Thema innere Sicherheit: Gegen den Rechtspopulisten Ronald Schill war die rot-grüne Stadtregierung machtlos

Von Marco Carini

Schon Anfang der Nullerjahre ging es in Hamburg darum, Dealer und Junkies aus der Innenstadt, aus dem Hauptbahnhof, aus dem Schanzenpark zu vertreiben. Das war das Programm des ehemaligen Richters und Parteigründers Ronald Schill, der mit seinen Law-and-Order-Thesen erst den Bürgerschaftswahlkampf 2001 aufmischte, dann die CDU erstmals seit Jahrzehnten an die Regierung brachte und später als Innensenator und Zweiter Bürgermeister Hamburg mitregierte.

Sauberkeit und Sicherheit waren die Schlagworte, als Ronald Schill Hamburg „zur Kriminalitätshauptstadt Deutschlands“ erklärte, ohne dieses Prädikat mit Zahlen und Fakten belegen zu können. „Das Risiko, in Hamburg Opfer eines Straßenraubs zu werden, ist elfmal so hoch wie in München“, behauptete Schill. Beweisen konnte n er das nicht, doch seine knackigen Botschaften lösten in Hamburg eine hysterische Debatte aus. Der Wahlkampf drehte sich nur noch um das Thema „Kriminalität“, soziale Probleme, andere Themen spielten in der öffentlichen Debatte keine Rolle mehr.

Schill nährte die eigene Kampagne immer wieder mit markigen Parolen: Er werde die „Kriminalität innerhalb von 100 Tagen halbieren“ und die offene Drogenszene vertreiben, lautete eines seiner vielen Wahlversprechen. Mehr Polizei, härtere Strafen für Straftäter, Brechmitteleinsätze gegen (schwarzafrikanische) Dealer versprach die von Schill gegründeten Partei Rechtsstaatliche Offensive, die im Herbst 2001 mit einem Wahlergebnis von über 19 Prozent in die Bürgerschaft einzog und mit der CDU und der FDP eine Regierungskoalition schmiedete.

Rot-Grün hatte lange versucht, das Thema aus dem Wahlkampf heraushalten. Erfolglos. Als die Umfrageergebnisse für die Schill-Partei immer höher klettern, zog die SPD schließlich die Notbremse, ersetzte den farblosen Innensenator Hartmut Wrocklage durch Olaf Scholz. Der ordnete sogleich Brechmitteleinsätze gegen Drogendealer an, eine Maßnahme, die die regierende rot-grüne Koalition fast zum Platzen brachte.

Doch Rot-Grün hatte keine Antworten auf die Probleme, die für alle HamburgerInnen sichtbar waren, und auf denen die Schill’sche Propagandamaschinerie aufsetzte: Am Hamburger Hauptbahnhof hatte sich eine offene Drogenszene etabliert, die es so vermutlich in keiner anderen deutschen Stadt gab. Junkies campierten hinter dem repräsentativen Bau der Jahrhundertwende, offen florierte der Drogenhandel, die Polizei schien dagegen ohnmächtig. Und auch rund um den Schanzenpark war die offene Drogenszene unübersehbar.

Statt wie jetzt mit Licht sollte die Dealer-Szene allerdings mit Tönen in die Flucht getrieben werden: Ab 2002 ließ Schill – nun schon Innensenator – den Hauptbahnhof und seine beiden Vorplätze mit klassischer Musik beschallen. In der, so wollten Forscher herausgefunden haben, seien Tonfrequenzen enthalten, welche bei Drogenabhängigen Gliederschmerzen auslösten.

Wichtiger für den Erfolg der Vertreibungsstrategie waren freilich die ständige Polizeipräsenz, verstärkte Aussprechen von Platzverweisen und die Etablierung der Drogenhilfeeinrichtung „Drob Inn“ nur wenige hundert Meter vom Bahnhof entfernt. Hier konnten unter Aufsicht Drogen gesetzt werden – damals ein, auch von Schill vehement bekämpftes, Novum in Hamburg.

Noch heute arbeiten der Senat, das zuständige Bezirksamt Hamburg-Mitte, die Deutsche Bahn, Bundespolizei, Hamburger Polizei und Stadtreinigung am Hamburger Hauptbahnhof eng zusammen. Die offene Drogenszene ist längst verschwunden, die Probleme sind heute aus Sicht des Bezirksamts Mitte eher der Schmutz, Obdachlose und Alkoholkranke.

Seit einigen Jahren gibt es um den Hauptbahnhof herum mehr Lichtquellen, mehr Pissoirs, größere Müllbehälter und neue Fahrradständer. Die Stadtreinigung kommt statt fünfmal inzwischen achtmal am Tag, und es herrscht Alkoholverbot.

Mit der sichtbaren Veränderung des Hauptbahnhof-Milieus ist auch das Problem der Drogenkriminalität wie aus den Augen, so aus dem Sinn. Immerhin hat die Zahl der Drogentoten in Hamburg leicht abgenommen: Waren es 2002 noch 79, verzeichnet die amtliche Statistik für das vergangene Jahr noch 60 Drogentote.

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