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Weltweit zu Hause

Wer gern reist, hat viele Möglichkeiten, das zu tun. Speziell Familien, auch solchen mit nur wenig Geld, möchte die Organisation „Global Natives“ die Möglichkeit eröffnen, in aller Welt Menschen, Sprachen und Kulturen kennenzulernen. Demnächst begrüßt man die einmillionste mitmachende Familie

Von Hannes Vater

„Der größte Vorteil ist, dass man selbst entscheidet, was man wann und wo mit wem unternehmen möchte“, sagt Nina Prodinger. „Ohne Bürokratie, ohne Vorschriften und Einschränkungen – und das zum Selbstkostenpreis.“ In den 1970er- und frühen 1980er-Jahren war sie Rucksackreisende, so wie zwölf ihrer Freunde. Kennengelernt hatten sie sich in Neuseeland. Was sie verband, war die Lust zu reisen – und das schmale Budget. Jahrzehnte später fanden sie sich dann in den sozialen Medien wieder. Sie warfen ihr Wissen und ihre Erfahrungen in einen Topf und gründeten, was sie sich schon zu Jugendzeiten gewünscht hatten: eine weltweite Community von Gleichgesinnten. Ihr Name: „Global Natives“, globale Einheimische.

Heute versteht man sich als Plattform für Familien in aller Welt, die sich gegenseitig Zugang zum eigenen Leben, zur eigenen Sprache und Kultur geben. „Individuellen Initiativen und Ideen stehen so viele Türen offen, weil faires Geben und Nehmen wirklich gut funktioniert“, sagt Prodinger. Neues Weltbürgertum sei leistbar und unkompliziert möglich.

Aktuell sind Familien aus 61 Staaten dabei, mit dem kommenden Jahreswechsel soll die Eine-Million-Familien-Marke erreicht sein. 124.444 der Mitglieder stammen aus Deutschland. In den meisten Ländern gibt es regionale Betreuungen, die bei sprachlichen Hürden und anderen Problemen helfen. Nina Prodinger ist von Salzburg aus zuständig für den deutschsprachigen Raum. Das einzige Büro betreibt Global Natives in London: Dort arbeiten sieben Leute, alle anderen – weltweit insgesamt 102 Betreuer – tun das von zu Hause aus.

Vergleichsweise niedrige Kosten

Neben ihrer Flexibilität unterscheidet sich die Organisation durch die überschaubaren Kosten von vielen anderen Austauschorganisationen: 196 Euro beträgt der Jahresbeitrag, bei bestehender Mitgliedschaft sinkt er von Jahr zu Jahr. Gerade bei Familien spielten die Kosten eine entscheidende Rolle in der Auslandsplanung, sagt Prodinger: „Für ein einzelnes Kind 16.000 Euro für ein Jahr in den USA aufzutreiben, kann noch gehen. Aber was machen Familien mit vier Kindern?“ Die Hälfte der Einnahmen schüttet die Organisation wieder aus: für Stipendien und Reisekostenzuschüsse. Andere Quellen als die Mitgliedsbeiträge hat Global Natives dabei nicht: Spenden oder öffentliches Geld gibt es nicht.

Gerade neue Mitglieder haben vielfältige Ideen und Ansprüche, wenn sie sich der Community anschließen. „Es gibt natürlich Familien, die mit einem klar definierten Ziel Mitglied werden und keinen anderen Zweck verfolgen,“ sagt Prodinger – „etwa ein Austauschjahr in Frankreich“. Die Mehrheit aber mache ihre Mitgliedschaft schnell zu einem Teil ihres Lebens und verlagere etwa die eigene Urlaubsplanung in die Community.

Ein Beispiel: Patrick O’Neill aus Irland und Shameem Patel aus Indien haben zusammen Zoologie und Wildlife Studies in den USA studiert. Danach trennten sich ihre Wege. Beide reisten viel und arbeiteten in den Nationalparks und Naturschutzgebieten der Welt, bevor sie zurück nach Hause gingen. Patrick nach Killarney, Shameem nach Chhattisgarh. Sie gründeten Familien und verloren sich aus den Augen.

Inzwischen haben beide je drei Kinder im Teenager-Alter, die gern etwas von der Welt sehen möchten. Durch die Empfehlungen von Bekannten stießen die einstigen Studienfreunde auf Global Natives. Auf der Website der Organisation legten sie Profile an und äußerten unter anderem ihr Interesse an Natur, Zoologie und Wildlife Studies. Anhand der Interessengebiete fanden sich die beiden wieder – nach 22 Jahren. Mit Frauen und Kindern besuchten sie einander, reisten zusammen. Inzwischen teilen sich die Söhne von Patrick und Shameem ein Zimmer auf ihrem College-Campus – die Geschichte scheint sich zu wiederholen.

Die O’Neills haben mittlerweile fünf Partnerfamilien, zwei aus Frankreich, eine aus Deutschland, eine aus Italien und eine aus Indien. „Ich denke, unsere Söhne wären ohnehin ins Ausland gegangen“, sagt Maureen, Patricks Frau. „Im Herzen sind wir Weltbürger. Ohne unsere Partnerfamilien hätten wir ihnen aber niemals solche Auswahlmöglichkeit bieten können. Auch wäre die Welt nicht in diesem Maße zu uns gekommen.“ Weiter reisen wollen sie selbst aber auch: „Wenn überhaupt, kommt jetzt die Zeit, in der Patrick und ich das Netzwerk mehr für uns als für die Kinder nutzen werden.“

Michael Wu, Mitarbeiter der Londoner Zentrale von Global Natives, vergleicht die Organisation mit den ersten Schritten auf Facebook: „Wenn du einmal verstanden hast, wie es läuft, fallen dir so viele neue Wege ein, es zu nutzen!“

Sprunghafte Anstiege der Anmeldezahlen gab es zuletzt nach der Brexit-Entscheidung und den US-Präsidentschaftswahlen im Jahr 2016. „Da haben wir gespürt, wie viele Menschen uns mittlerweile als Tor zur Welt wahrnehmen“, sagt Prodinger. Rund die Hälfte der Mitglieder sind Europäer, viele stammen aus Kanada, den USA, Australien, Neuseeland, Südafrika, Chile, Uruguay. Zurzeit hofft die Organisation auf Zuwachs aus Asien: In China und Singapur steigen die Mitgliederzahlen demnach bereits rapide.

Wie im Fall von Patrick und Shameem lässt sich selten erahnen, welche Gelegenheiten die Mitgliedschaft eröffnet. Familie Girard (Name geändert) aus der Schweiz hat zwei Kinder mit speziellen Bedürfnissen: Emma ist gerade 17 geworden, hat einen IQ von 165, ist sportlich, sehr musikalisch und spricht fünf Sprachen. Ihr Bruder Louis ist elf – und hat Trisomie 21. „Wir fahren sozusagen zwei völlig unterschiedliche Schienen“, sagt ihre Mutter Lily: Damit beide, „so wie sie sind, glücklich werden können“.

Gastgeber, Freunde, seelische Stütze

Durch die Empfehlung von Emmas Klavierlehrerin erfuhr die Familie von Global Natives. Sie legte sich ein Profil an, Emma suchte nach ersten Partnerfamilien – und achtete darauf, dass die Eltern mindestens genauso viel gemeinsam haben wie die Kinder. Die Girards fanden Gleichgesinnte: in Lissabon, Edinburgh, Montpellier. Heute stehen sie in regelmäßigem Kontakt miteinander, besuchen sich gegenseitig. Vor vier Jahren stießen sie auf eine Familie in Bayern, am Chiemsee. Deren Sohn, Tobi, ist im gleichen Alter wie Louis – und hat auch Trisomie 21.

Die Familien sind einander Freunde geworden, seelische Stütze, Ratgeber und Gastgeber. Vor dem ersten Treffen waren die Girards gespannt, ob sich Louis und Tobi verstehen würden. „Es war Liebe auf den ersten Blick“, sagt Lily, „Die zwei sind unzertrennliche Freunde seit dem ersten Tag.“ Unter anderem bedeutet das, dass sie sich plötzlich bemühten, besser zu schreiben, mit Laptop und Smartphone umzugehen, um so eigenständig den Kontakt zu halten. „Sie haben seither auch in schulischen Dingen eine freundschaftliche Rivalität entwickelt, die ihnen sehr, sehr gut tut.“ Momentan suchen die Girards eine Partnerfamilie in Kanada, gern an der Grenze zwischen Québec und Ontario, vorzugsweise mit einem Klavier. „Die ersten Kontakte sind schon recht vielversprechend“, sagt Lily.

Global Natives will, dass möglichst vielen jungen Menschen die Welt offensteht – unabhängig von ihrer Bildung, ihrem Kontostand oder dem gesellschaftlichen Status ihrer Familie. „Die nächste Generation soll die Welt besser kennen“, sagt Mitgründerin Nina Prodinger, „um sich auch mehr für sie verantwortlich zu fühlen.“

www.globalnatives.org

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