: Schweden fährt Bahn – oder lieber gar nicht
Für das Klima auf dem Boden bleiben: Viele NordeuropäerInnen haben „flygskam“
Sieben Weltcupsiege, drei WM-Medaillen und einmal Olympia-Gold sammelte der schwedische Biathlet Björn Ferry in seiner aktiven Sportkarriere. Für die anstehende Wintersportsaison hat ihn das öffentlich-rechtliche Fernsehen SVT als Kommentator angeheuert. Ferry hatte dafür eine Bedingung: keine Flugreisen. SVT musste akzeptieren, dass er nicht nur die 800 Kilometer von seinem nordschwedischen Wohnort zum Studio in Stockholm, sondern auch seine Reisen zu den Wettkampfstätten in Italien, Slowenien oder Norwegen mit der Bahn zurücklegen wird. Es werden mindestens 13.000 Kilometer auf der Schiene werden. „Hätten sie Nein gesagt, hätte ich das nicht gemacht“, sagt Ferry.
Er hat nicht etwa Flugangst. Ferry geht es ums Klima. Seit zwei Jahren ist niemand in der Familie mehr geflogen. Er ist nicht allein: SchwedInnen fliegen im Schnitt siebenmal mehr als durchschnittliche Erdenbewohner. Ist der gesamte CO2-Ausstoß des Landes seit 1990 um 24 Prozent gesunken, wuchs der vom Flugverkehr verursachte um 61 Prozent an. Doch in den Medien häufen sich Beiträge wie die des Kulturchefs der Tageszeitung Expressen, der den „idiotischen Lebensstil“ des Vielfliegens als „teuersten Selbstmord der Weltgeschichte“ anprangerte.
Der Hashtag #flyingless bekam inzwischen seine schwedische Entsprechung im #jagstannarpåmarken – „Ich bleib auf dem Boden“. Es ist eine regelrechte Bewegung entstanden, für die sich auch ein neuer Begriff eingebürgert hat: „flygskam“, sich wegen seiner Flugreisen schämen. Er hat gute Aussichten, Wort des Jahres 2018 zu werden.
Eine Facebook-Gruppe, die Tipps über Bahnfernreisen austauscht, bekam binnen wenigen Monaten 30.000 neue Mitglieder. Geschäftsleute berichten begeistert von für sie ganz neuen Erfahrungen: Ja, man könne tatsächlich zu Terminen in London und Frankfurt oder Tagungen in Genf per Bahn reisen. Im Mai absolvierte Kultusministerin Alice Bah Kuhnke offizielle Besuche in Paris, Cannes und Berlin – per Bahn. Von der Linkspartei bis zu den Konservativen meldeten sich PolitikerInnen zu Wort: Soweit es nur gehe, würden sie aufs Fliegen verzichten.
Bei SJ, der schwedischen Bahn, merkt man das. Die Belegung der innerschwedischen Nachtzüge ist massiv gestiegen: zwischen Malmö und Stockholm in einem Jahr um 100 Prozent. Hatte SJ 2015 wegen sinkender Nachfrage das Nachtzugangebot reduziert, wird es ab Dezember neue Verbindungen geben.
Auch Interrail erlebt eine Renaissance: In Schweden ist der Verkauf der Tickets gegenüber 2017 um 50 Prozent gestiegen.
Reinhard Wolff
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