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Kommentar Retropien und NostalgieDie Sehnsucht nach mehr Lametta

Klaus Raab
Kommentar von Klaus Raab

Zwei Drittel der Menschen in Deutschland glauben: Früher war die Welt besser. Viele verorten sich politisch rechts von der Mitte.

2015 hat der letzte Lametta-Hersteller in Deutschland die Produktion eingestellt Foto: Unsplash/ Joshua Coleman

D amals, als die Welt noch in Ordnung war, als die Menschen noch richtige Lieder sangen, für Arbeitnehmerrechte demonstrierten, noch nicht immerzu auf ihre Handys glotzten und noch Tierfelle trugen, damals schrieb ein Mann namens Loriot ein Stück namens „Weihnachten bei Hoppenstedts“. Der Nachwuchs bekommt darin einen Atomkraftwerk-Bausatz geschenkt und der bekannteste Satz ist der des Großvaters, der über den Wandel der Zeiten klagt: „Früher war mehr Lametta!“

Es ist ein Sketch, der gerne als zeitlos beschrieben wird. Aber man muss nur mal ein Kind fragen, ob es die Pointen darin versteht, eines jener nachgeborenen Geschöpfe also, die wohl annehmen müssen, dass ein Fußballtrainer nur Joachim Löw heißen kann und Angela Merkel seit Anbeginn der Welt das Land regiert. Das Kind wird schauen wie ein Auto und dann fragen: „Ähm, excusez-moi, aber was ist dieses Lametta?“

Alles hat seine Zeit. Die des Lamettas liegt hinter uns. Nicht mehr lange, und die Kinder wissen auch nicht mehr, was ein Atomkraftwerk ist. Es gibt freilich Menschen, die sich nichts sehnlicher wünschen, als dass nach der Ära Merkel jemand das Rad zurückdreht auf einen Urzustand, in dem wir alle einander die Läuse von den Köpfen knibbelten, was ungefähr in jener Zeit gewesen sein muss, in der Friedrich Merz das Feuer erfand.

Aus dem vulgärkonservativen Wunsch nach einer Rückkehr in eine frühere Zeit spricht der Traum von einer überlieferten Ordnung, die längst zu Staub zerbröselt ist. Sicherheit war gewährleistet, denn Amerika war der beste Partner. Der Strom kam aus der Steckdose. Europa war Friede, Freude, Freiheit und wir Männer konnten samstags nach dem Autowaschen im Keller unsere Modelleisenbahnen bauen und zum Mittagessen kurz hochkommen. Die Anzugherren in Bonn sorgten für die sichere Rente.

Zwei Drittel der Menschen in Europa sind nostalgisch

Aber dieser Zustand wird nicht zurückkommen. So wenig wie der Zustand zurückkommen wird, in dem es keine Ehe für alle gab, oder jener, in dem Männer zur Bundeswehr eingezogen wurden, um ein Jahr lang zu lernen, wie man betrunken Stiefel schnürt. Wer dahin zurückginge, wäre auch nicht konservativ, sondern antimodern, was immer noch ein Unterschied ist.

Nur, die Position, dass früher alles irgendwie besser war, ist keine Minderheitenposition. Laut einer nun veröffentlichten Erhebung der Bertelsmann-Stiftung ist eine Mehrheit der Europäerinnen und Europäer nostalgisch. Zwei Drittel von ihnen und 61 Prozent der Deutschen sind demnach der Ansicht, dass die Welt früher besser gewesen sei. Je älter die Befragten sind, desto eher glauben sie das der Umfrage zufolge. Und je eher sie dieser Auffassung sind, desto eher verorten sie selbst sich rechts der politischen Mitte.

Wir leben in einer Zeit der Retrotopien, in der die Frage, wo vorne ist, von einigen sehr grundsätzlich mit hinten beantwortet wird.

Aber auch in anderen Kreisen, in denen man sich selbst für progressiv hält, ist im Angesicht des Wandels durchaus eine emotionale Zurückhaltung an der Grenze zur Angst zu bemerken. Fehlen die positiven Visionen? Oder fehlt das Vertrauen in positive Visionen? Großen Entwicklungen folgte jedenfalls schon oft eine Phase, die von Desillusionierung geprägt wurde.

Vergangenheit verkauft sich gut

Das Internet etwa: irgendwie ziemlich im Eimer. Obama: Toll, nur kam danach eben Trump. Pop: einst ein politisches Versprechen – aber im Vergleich mit der Konsumwelt, in der sich YouTube-Stars tummeln, wäre selbst ein Revival der grundehrlichen Haarspray- und Levis-Botschafter der Achtziger und Neunziger rebellisch.

Keine Veränderung zum Schlechten gilt vielen derzeit als größter vorstellbarer Erfolg. Ein Europa, das wenigstens nicht ganz kaputtgeht – wow! Eine Arbeit, die auch in zehn Jahren noch mies bezahlt wird – das wäre doch was!

Hinzu kommt, dass sich Vergangenheit blendend verkauft. Tourismus etwa lebt auch von der Behauptung der Authentizität, einer vorgegaukelten Echtheit, die sich aus dem Gestern speist: Die einen haben ursprüngliches Fachwerk, ganz neu gebaut, die anderen bieten natürliche Berge oder von Menschen kaum je betretene Strände. Dass die Alpen in ihrem Naturzustand undurchwanderbar wären, vermittelt sich auf den Postkartenmotiven eher nicht.

Eine Zombie-Vergangenheit, so inexistent wie die Zukunft

Wir leben in einer Zeit der Retrotopien, in der die Frage, wo vorne ist, von einigen sehr grundsätzlich mit „hinten“ beantwortet wird. „Retrotopien“, so hat es der Soziologie Zygmunt Bauman kurz vor seinem Tod 2017 genannt, sind „Visionen, die sich anders als ihre Vorläufer“ – also die Utopien – „nicht mehr aus einer noch ausstehenden und deshalb inexistenten Zukunft speisen, sondern aus der verlorenen/geraubten/verwaisten, jedenfalls untoten Vergangenheit“.

Der Witz an dieser Zombie-Vergangenheit ist, dass sie so inexistent ist wie die Zukunft. Die Literaturwissenschaftlerin Svetlana Boym sieht in der Nostalgie „ein Gefühl des Verlusts und der Entwurzelung“, aber auch „eine Romanze mit der eigenen Fantasie“. Die Erkenntnis, die der Satz „Früher war mehr Lametta“ transportierte, den heute noch Leute wie eine Bauernregel halb ironisch, halb seufzend durch die Kommentarspalten schleifen, schließt hier an, als Kalenderspruch zur Gegenwart.

taz am wochenende

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Übersehen darf man dabei nur eines nicht: 2015 hat der letzte Lametta-Hersteller in Deutschland die Produktion eingestellt. Aus dem Bundesverband für den gedeckten Tisch, Hausrat und Wohnkultur hieß es damals, Lametta sei „völlig out“.

Früher war mehr Lametta – das ist kein Witz mehr. Das ist ein Fakt. Es will einfach niemand mehr haben. Es würde einen aber nicht wundern, wenn demnächst jemand versucht, sein politisches Programm mit einem Lametta-Revival zu verkaufen, an ein paar Emotionen kann man damit ja vielleicht trotzdem andocken: Gute deutsche Lametta-Tradition, in der Ära Merkel beendet, oder so.

Lassen Sie uns dann aber bitte stark sein. Lassen Sie uns aufstehen und sagen: Nein, Herr Spahn!

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Klaus Raab
Freier Journalist und Vertretungskolumnist
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4 Kommentare

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  • Wir leben halt in der Epoche der "regressiven Moderne" (wie Oliver Nachtwey sie mal bezeichnete) und die Babyboomer-Generation vermisst ihren "rheinischen Kapitalismus". Aber warum hat v.a. diese Generation denn neoliberale Parteien gewählt?

    • 6G
      61321 (Profil gelöscht)
      @vøid:

      Wahrung des Besitzstandes und von Privilegien?

  • Ich bin im "früher" der frühen 60/70er aufgewachsen, geboren 1962.

    Rückblickend kann ich sagen:



    Früher war nicht alles besser, teilweise sogar viel komplizierter. Deshalb müsste ich diese Zeit auch nicht mehr haben.

    Aber:



    Ein Relikt aus der Vergangenheit hätte ich gerne wieder zurück:



    Den Wert der Dinge!

    Damals war es bicht selbstverständlich, sich "mal eben" einen Fernseher zu kaufen. Da musste man das Geld entweder gespart haben oder sich einen Kleinkredit holen - denn der Fernseher hatte einen bestimmten Wert.



    Und der war so angesetzt, daß man es sich auch mehrmals überlegte, ob man dieses Gerät nun unbedingt braucht.

    Was auch für andere Dinge gilt wie Autos, Kleidung, Waschmaschinen usw.



    Die Dinge waren teuer und stellten einen gewissen wert dar.



    Hatte man sich dann netschieden, ein solches zu kaufen, wurde auch darauf geachtet, es möglichst lange am Leben zu erhalten.



    Und war mal was defekt, rief man einen Techniker, der es dann reparierte.

    Mit dem Wert der Dinge kam auch ihre Qualität und die Langlebigkeit.



    Alles Zustände, die ich heute vermisse.



    FRüher hatten wir auch schon einen Kapitalismus und den Drang zum Konsum.

    Vergleiche ich das aber mit heute, so stürzen die Menschen nun wie die Irren in die Kaufhäuser, um Dinge ohne signifikanten Wert zu kaufen, welche auch kein allzu langes Leben haben.

    Der heutige Kapitalismus und der Konsum sind in einem Maß gestiegen, daß es mir schon Angst macht.



    Nicht nur wegen der Kaufwut und der Manipulation der Hersteller nach mehr Kauf.........



    .....sondern auch deshalb, weil heutzutage Regierungen voll im Bann der Konzerne stehen und diesen still dienen (auch wenn sie es nach aussen anders darstellen).

    Aus dieser Sicht herrschten damals ja -fast-paradiesische Zustände.

  • Das Kind wird schauen wie ein Auto und dann fragen: „Ähm, excusez-moi, aber was ist dieses Lametta?“

    Dann stimmt's doch. Heute ist also sogar noch viel weniger Lametta als zur Zeit der Hoppenstedts!