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Betten für die Ärmsten

Die Krankenstube der Caritas im ehemaligen Hafenkrankenhaus in Hamburg-St. Pauli päppelt pflegebedürftige und kranke Obdachlose auf

Marek hat alle fünf Zehen am linken Fuß verloren, sie wurden amputiert

Von Juliane Preiß

Eine Schürfwunde säubert und desinfiziert man, klebt ein Pflaster drauf und nach ein paar Tagen ist sie verheilt. Lebt man auf der Straße, ist selten sauberes Wasser parat, geschweige denn Desinfektionsspray oder Pflaster. Im Rausch wird der Schmerz erträglich. Die Wunde fängt an, sich zu röten, zu eitern, Sepsis, Exitus. Klar, es muss nicht zum Äußersten kommen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass eine solch banale Verletzung, das Leben kosten kann, ist bei Obdachlosen hoch.

Mit Wunden und deren Versorgung kennen sich die Pflegekräfte der Caritas Krankenstube auf St. Pauli aus. Thorsten Eikmeier, Leiter der Krankenstube, schlägt einen dunkelblauen Ordner auf, dessen Inhalt nichts für zarte Gemüter ist. Offene Wunden, abgestorbene Zehen, entzündete Operationsnarben. Alles wird dokumentiert. Auch die Heilungsprozesse. „Es braucht eigentlich nicht viel, um eine Wunde zum Heilen zu kriegen. Aber auf der Straße ist das fast unmöglich“, sagt Eikmeier.

Der lange Flur im 2. Stock des ehemaligen Hafenkrankenhauses ist am frühen Nachmittag fast verwaist. Nur ab und an schlurft jemand mit dem Rollator über den Flur. In der Küche werden die leeren Töpfe zwar schon trockengewischt, aber der Geruch von Chili con carne hängt noch in der Luft. Einige der Zimmer sind leer. Die Bewohner sind draußen unterwegs, das ist erlaubt.

Doch auch in der Krankenstube gibt es Regeln. „Wenn hier in den Räumen konsumiert wird, wird nicht lang gefackelt“, sagt Thies Reinhold. Der Pfleger, einer von neun Mitarbeiter*innen, ist ein hagerer Typ, seine Unterarme sind sehnig. Dass er durchgreifen kann, glaubt man sofort. Die Tür zum Pflegebüro wird aufgeschubst. „Habe Schmerzen, kann ich eine Tablette haben?“, fragt ein Mann, nennen wir ihn Marek, und schiebt seinen Rollator in den Türspalt. Reinhold legt ihm eine Pille in die Hand.

Marek ist Diabetiker, als er in die Krankenstube kam, hatte er einen Blutzuckerwert von 500 Milligramm pro Deziliter, normal ist 110 bis 140. „Ein Wunder, dass er das überlebt hat“, sagt Reinhold. Insulin ist teuer, krankenversichert sind die wenigsten Patienten in der Krankenstube. Marek hat alle fünf Zehen am linken Fuß verloren, sie wurden amputiert. Er selbst zuckt nur mit den Schultern: „Geradeaus laufen kann ich“, demonstrativ macht er drei Schritte nach vorn. „Aber wehe, es geht bergab oder die Treppe hoch.“

Die Geschichte der Caritas Krankenstube begann im Jahr 1999. Mittlerweile gibt es 18 Betten, die ständig belegt sind. Die Patienten kommen aus dem Krankenhaus zur Nachsorge, werden vom Krankenmobil, das zu den Notunterkünften fährt, geschickt oder weisen sich selbst ein. Die meisten von ihnen sind in Zwei- oder Dreibettzimmern untergebracht.

Das Einzelzimmer am Ende des Flures sei „schon Luxus“, so Thorsten Eikmeier. Bücher stehen aufgereiht auf der Fensterbank, Kleidung liegt ordentlich gefaltet auf der Decke, die Bewohnerin ist ausgeschwärmt. Durch die gelbgefärbten Baumwipfel schaut das Bismarck-Denkmal herüber. Man wolle die Menschen auch nicht zu sehr verwöhnen, aber: „Die Leute erleben draußen so viel Mist, dann können sie bei uns auch mal Wellness machen“, sagt Eikmeier. Die Obdachlosen sollen zur Ruhe kommen, ohne den täglichen Stress – wo kriege ich was zu essen her, wo schlafe ich?

Drei Mahlzeiten am Tag, eine Dusche, Klamotten waschen. Purer Luxus. Und natürlich die medizinische Versorgung plus einen Sozialarbeiter, der Zeit hat für Gespräche und Hilfe zum Beispiel bei Behördengängen und bei der Suche von Folgeunterkünften anbietet. Die Krankenstube der Caritas wird pro Jahr mit 350.000 Euro von der Sozialbehörde der Stadt Hamburg bezuschusst, dazu müssen mindestens 150.000 Euro Spendengelder kommen, um den Betrieb am Laufen zu halten.

Denn Medikamente sind teuer. Einer der Patienten benötigt spezielle Verbandsauflagen mit Silberpartikeln zur Bekämpfung einer Entzündung. Allein diese Materialien kosten rund 2.000 Euro im Monat. Und nur weil ein Medizinversand die Arbeit der Krankenstube unterstützenswert fand, bekommt der Patient diese Behandlung. Der 37-jährige Eikmeier hat als Sozialarbeiter in der Krankenstube angefangen, mittlerweile ist er auch Experte in der Drittmittel-Akquise. „Wenn wir Menschen aufnehmen, denke ich manchmal schon: Oh Gott, wo kriegen wir jetzt die Verbände her? Dann müssen wir einfach mit den Mitteln arbeiten, die da sind.“

Einige der Obdachlosen kommen öfter, die werden „Drehtürpatienten“ genannt. Adam ist so einer. Drei Mal sei er schon aufgenommen worden, sagt der 42-jährige Pole. Beim Zählen seiner Narben verliert er selbst den Überblick. Er stützt seine mindestens 1,90 Meter auf eine Krücke, schlurft in den Gemeinschaftsraum in der Mitte des Flures, wo gemeinsam gegessen, Fernsehen geschaut und viel geschwiegen wird. In den Regalen liegen Bücher und Gesellschaftsspiele. Adam lässt sich ächzend auf einen Stuhl fallen, das Knie schmerzt. Dort, wo die Kniescheibe verläuft, zieht sich eine Operationsnarbe entlang, die Fäden sind noch drin.

„Das hier war aber schlimmer“, sagt Adam und lüftet sein Basecap. Eine Narbe vom linken zum rechten Ohr. Da habe es vor sechs Jahren eine Schlägerei in einer Notunterkunft gegeben, sagt er. Die meisten seiner Gesichtsknochen seien zertrümmert gewesen, der Nase sieht man es noch ein bisschen an. Bei einem Sturz vor fünf Jahren hat er sich dann seine Kniescheibe zertrümmert, die Schrauben waren genauso lange drin. „Wenn du ins Krankenhaus gehst, fragen die: Bist du versichert? Nein? Na, dann Tschüss.“ Vor zwei Monaten hatte er eine Blutvergiftung, er war so schwach, dass er nicht mehr laufen konnte. Da war er dann ein Notfall und konnte nicht einfach weggeschickt werden.

Jetzt wird Adam zum Arzt gefahren, schnackt mit den Pflegern und anderen Patient*innen. Es wird nicht viel gesprochen, aber das wenige ist oft Polnisch. Auch die Schilder an den Türen sind ins Polnische übersetzt. „Keine Becher mit rausnehmen“, „Auf dem Klo nicht Rauchen“. Viele Nationen gingen in der Krankenstube ein- und aus, der Großteil stamme aber aus Osteuropa, sagt Thorsten Eikmeier.

Die Stadt hätte am liebsten, dass diese Menschen alle in ihre Herkunftsländer zurückgehen und aus der Obdachlosenstatistik verschwinden. Doch Adam winkt ab, zurück nach Polen will er nicht. In der Krankenstube habe er sogar eine ganze Zeit lang nichts getrunken, sagt er, bevor er dann doch irgendwann schwach wurde.

Irgendwann müssen alle wieder raus, zurück auf die Straße. Normalerweise bleibt kein Patient länger als sechs Wochen. „Wir können die Leute nicht hier behalten, weil sie nett sind“, sagt Thies Reinhold.

Die Gespräche, in denen angekündigt wird, dass die Zeit in der Krankenstube abläuft, führt Thorsten Eikmeier: „Das ist nie schön.“ Es gibt Tränen, auch Wut. Aber es hilft ja nichts. Es hoffen schon die Nächsten auf ein Bett.

Im kommenden Jahr soll aufgestockt werden, auf 20 Betten.

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