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Es knirscht in der Hood

Lange haben wir in der taz den Neuköllner Schillerkiez beobachtet, der wie kein anderer der Stadt durch der Öffnung des Tempelhofer Felds aufgewertet wurde. Wie geht es dem Viertel heute? Ein Spaziergang

Foto: Veränderung liegt in der Luft. So sieht es im Schillerkiez aber auch noch aus …Foto: Wolfgang Borrs

Von Susanne Messmer

Es war im Mai 2010, als es anfing. Zwei Jahre nach Schließung des Flugfelds ging das Tempelhofer Feld auf, 235.000 Besucher kamen am ersten Wochenende. Damals entschieden wir in dieser Zeitung, dem Schillerkiez in Nordneukölln, einem ursprünglich sehr abgehängten Quartier, das direkt an das Feld grenzt, besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

Der Kiez war damals noch geprägt von günstigen Bäckereien, Imbissbuden und Schultheiss-Kneipen. Die Arbeitslosigkeit lag bei 40 Prozent. Hier war die Idee der „Stadtteilmütter“ entstanden, die Sozialarbeit in Migrantenfamilien leisten. Hier hatte auch die von Abschiebung bedrohte libanesische Familie Akkouch aus dem Film „Neukölln Unlimited“ gewohnt. Im Mai 2015 beendeten wir dann die Serie.

Unser Fazit damals: Der Schillerkiez ist inzwischen überall in Berlin: „In vielen gewachsenen Vierteln mit ihren lokalen Netzwerken aus Kneipen, Kirchen, (politischen) Lokalmatadoren und alteingesessenen Händlern werden Geschichten erzählt vom Ende der Mieterstadt Berlin.“

Drei Jahre später. Ein grauer, windiger Herbstvormittag 2018, auch der für diese Jahreszeit typische Nieselregen darf nicht fehlen. Wie sieht es heute aus im Schillerkiez, zehn Jahre nach dem Ende des Flughafens, der hier der Anfang von allem war?

Rüdiger Schöll, dessen Kunstschule in der Weisestraße 2012 Thema in der taz war, sitzt in einem der beiden Läden im Erdgeschoss, die er vor 20 Jahren dank eines kleinen Erbes kaufen konnte. Damals war der Laden noch sein Atelier, heute befindet sich darin die Speiserei, ein Café, in dem man unter anderem Stullen für 12,90 Euro bestellen kann. Schöll ist mit seinem Atelier in die Räume der Kunstschule gezogen, die Schule selbst hat er aufgegeben. Er will sich noch einmal auf seine eigene Arbeit, seine eigene Kunst konzentrieren, so erzählt er.

Man könnte sagen, dass Rüdiger Schöll von den Entwicklungen im Kiez profitiert hat. Man könnte aber auch sagen, dass ihn die Entwicklungen überholt haben. Früher, berichtet er, hätten vor allem Familien ihre Kinder zur Kunstschule gebracht, die zwar gebildet waren, aber nicht reich. Zuletzt seien auch Eltern dabei gewesen, wie man sie aus der schlechten Presse über den Stadtteil Prenzlauer Berg kannte: Helikoptereltern mit viel Geld und wenig Zeit. „Es ist zwar noch Luft nach oben“, sagt Schöll, „aber ein bisschen komisch finde ich schon, was im Schillerkiez in letzter Zeit passiert.“ Die Fressmeile in der Herrfurthstraße, die direkt zum Feld führt zum Beispiel. Die Touristen, die die Armut im Kiez eher als wilde Tapete wahrnehmen denn als soziale Realität.

Ein Spaziergang durch die nassen Straßen beweist: Der Schillerkiez ist noch einen Tick schicker geworden in den letzten drei Jahren, und trotzdem sieht man nach wie vor an allen Ecken und Enden Armut: Einen alten Mann in schmutzigen Jeans, der mit einem Sixpack unterm Arm in einem Hauseingang verschwindet. Eine Frau mit rosa Steppmantel und zerstörter Dauerwelle, die sich lauthals über eine neue Baustelle beschwert. Die Bikerkneipe Bierbaum 3 in der Schillerpromenade gibt es immer noch. Ebenso, jetzt allerdings umgezogen in die Weisestraße: „Eier-Lörchen“, die im Schillerkiez aufgewachsen ist, in ihrem Laden seit 21 Jahren Käfigeier verkauft und nach wie vor noch nie auf dem Tempel­hofer Feld war.

Und trotzdem ist heute kein friedliches Nebeneinander von „aufsteigend“ und „abgehängt“ im Schillerkiez – im Gegenteil. Die Atmosphäre wirkt aufgeheizt, es knirscht in der Hood.

Allein in der Weisestraße sind drei Gebäude eingerüstet. Passanten sprechen freimütig von ihrer Angst vor Dachausbau, Fahrstuhl und Mieterhöhung.

In fast jedem Ladenfenster hängen Aufrufe zur nächsten Kiezversammlung in der Szenekneipe Syndikat, die ihre Wurzeln in der autonomen Linken der 1980er Jahre hat und sich seit Jahren mit Straßenfesten und anderen Veranstaltungen gegen die Gentrifizierung im Kiez starkmacht. Seit 33 Jahren residiert das Syndikat in der Weisestraße, Anfang Juli lag dann plötzlich die Kündigung der Hauseigentümerin auf dem Tisch. Der Bezirk sieht juristisch kaum Möglichkeiten.

Es wird langsam Mittag im Schillerkiez, immer mehr junge Leute kommen raus, die sich in allen möglichen Sprachen unterhalten. Ein junger Brite in Sturmfrisur und Flokatiweste, der sich als Henry vorstellt, war zum ersten Mal als Tourist vor drei Jahren hier und arbeitet jetzt in einem Start-up in Mitte. 600 Euro zahlt er für sein Zimmer in einer WG und findet das natürlich sehr günstig – im Vergleich zu London. Eine junge Französin mit offenen Schnürstiefeln stellt sich als Alice vor, ist schon zum vierten Mal zu Gast in Berlin und sucht nun nach einem Job. Während sie sich gerade bei einem koreanischen Imbiss Fritten mit Kimchi bestellt, versucht drei Meter weiter eine Erzieherin mit geduldiger Stimme und freundlichem Lächeln, ihre Kinder in Zweierreihen zu sortieren.

Wenn man Sinaya Sanchis im Mädchenladen Schilleria auf die neue Klientel im Kiez anspricht, die immer größer wird, kommt selbst sie, die ansonsten viel und gern lacht, ziemlich nachdenklich rüber. Wie andere Akteure im Kiez war auch die Schilleria letztes Jahr von Verdrängung bedroht, es gab eine deftige Mieterhöhung, erst in letzter Sekunde sprang der Bezirk ein. In vier Jahren schon muss die Miete neu verhandelt werden.

„Ich fürchte, jetzt kippt es hier wirklich“

Sinaya Sanchis, Mädchentreff Schilleria

Aber braucht es dann überhaupt noch ein soziales Projekt wie die Schilleria, wo doch immer mehr gut verdienende Sin­gles und „biodeutsche“ Bildungsbürger in den Kiez ziehen? „Diese Leute schulen ihre Kinder nach wie vor nicht im Schillerkiez ein“, erwidert Sanchis. Der sogenannte Migra­tions­anteil in den umliegenden Grundschulen, wo die 40 Mädchen, die in die Schilleria kommen, zur Schule gehen, ist nach wie vor hoch. Dennoch wachse der Druck auf die Mädchen, findet Sanchis.

In den letzten vier Jahren, in denen Sanchis hier arbeitet, seien fünf der Schilleria-Mädchen mit ihren Familien weggezogen, nach Rudow, nach Tempelhof oder auch ganz weit raus. Viele, die sich noch vor Kurzem mit ihrem Kiez identifizierten, würden heute die meisten der neuen Läden in der Nachbarschaft nicht einmal betreten. „Der größte Teil der familienbetriebenen Obst- und Gemüseläden und Bäckerläden sind verschwunden“, fügt sie an und berichtet von den Inhabern der Kette SchillerBurger, die wenigstens versucht haben, es anders zu machen, und einen Monat lang einen Teil des Gewinns, den sie mit jedem Cheeseburger machten, an die Schilleria spendeten. „Seitdem leisten sich wenigstens ein paar der Mädchen ab und zu mal einen Burger da.“

„Es ist eine Katastrophe, wie sich gerade die Großstädte weltweit entwickeln“, sagt Rüdiger Schöll, der Mann, der nun keine Kunstschule mehr im Schillerkiez betreibt, und von einem Bericht über wohnungslose Familien aus der unteren Mittelschicht in New York erzählt, die sich in der Stadt keine Wohnung mehr leisten können und in Sammelunterkünften leben.

„Wir haben uns alle gewünscht, dass dieser Kiez schöner und diverser wird“, sagt Sinaya Sanchis.

„Aber ich fürchte, jetzt kippt es hier wirklich.“

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