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Anti-Brexit-Demo in LondonEr hätte damals „Remain“ gewählt

Hunderttausende fordern ein neues Brexit-Referendum. Dabei treffen in London ganz unterschiedliche Beweggründe aufeinander.

„Exit vom Brexit“? Warum eigentlich nicht? Foto: dpa

London taz | Mit Europafahnen, blau-gelben Baskenmützen und mit vielen selbst gemachten Plakaten laufen am Samstag Hunderttausende Menschen durch Londons Straßen – vom Hyde Park bis zum Parlamentsplatz in Westminster. Die Polizei nennt keine offiziellen Zahlen, aber 700.000 Demonstranten sollen es laut den Organisatoren von People’s Vote insgesamt gewesen sein. Gemeinsam forderten sie ein zweites Referendum über den Brexit.

Zuletzt waren 2003 bei der Demo gegen den Krieg im Irak so viele Menschen unterwegs. Und genau wie kurz vor dem Irakkrieg scheint die Regierung den Widerstand in der eigenen Bevölkerung auch dieses Mal ignorieren zu wollen. Das Referendum von 2016 müsse respektiert werden, hieß es bis jetzt immer wieder. So war es auch nicht überraschend, dass niemand aus der Regierung bei der Demo erschienen ist.

Die Stimmung unter den Demonstranten ist am Samstag trotzdem gut. Sie kommen aus allen Regionen Großbritanniens und aus allen Altersklassen. Die Atmosphäre bei dem Marsch ist fast karnevalähnlich, viele laufen in Verkleidung mit, und Straßenmusiker machen Musik für die vorbeiziehenden Anti-Brexit-Demonstranten.

Einer der Mitlaufenden ist der 20-jährige Kunststudent und Barmann Indigo Roberts aus London. Vor drei Jahren habe er keine Wahl gehabt, weil er damals erst 17 Jahre alt war. Erst mit 18 Jahren durfte man 2016 beim Referendum mitwählen. Er hätte damals „Remain“, also „Bleiben“, gewählt. Bei einer weiteren Abstimmung könnte er jetzt mitwählen, sagt er.

In der Menge läuft auch Ingrid ­Oostindie mit – sie ist 44 Jahre alt, Australierin mit holländischer Staatsangehörigkeit und wohnt in der südenglischen Seehafenstadt Bournmouth. Sie sagt, dass die Leute, die den Brexit gewählt haben, wohl alle tot sein würden, wenn der Brexit kommt – denn die Mehrzahl der Brexit-Stimmen kam 2016 von älteren Wähler*innen.

„Es gibt nichts Demokratischeres als eine Wahl“

Gründe für ein zweites Referendum gibt es am Samstag viele. Brexit-Befürworter hätten falschen Versprechungen geglaubt, steht auf den Plakaten der Demonstranten. Auch der Labour-Abgeordnete Chuka Umunna, der zu einem der Sprachrohre der Kampagne „People’s Vote“ geworden ist, wiederholt das auf der Bühne vor der Menge.

Die konservative Unterhausabgeordnete Sarah Wollaston aus Totnes in Devon tritt mit dem Labour-Abgeordneten Phil Wilson aus Sedgefield auf die Bühne. Wollaston vergleicht die derzeitige Situation mit den Gesprächen über eine Operation in einem Krankenhaus. „Plötzlich glauben die Ärzte, dass der Eingriff riskanter ist als vorher angenommen, doch der oder die Pa­tien­t*in wird dennoch in den Saal geschoben, wegen einer Einwilligungserklärung, die vor zwei Jahren ausgestellt wurde oder gar vor zwei Jahren von den Eltern.“

Sadiq Khan, dessen Meinung als Londoner Bürgermeister etwas mehr wiegt als andere, traut sich ebenfalls und spricht über die Bedeutung des Verbleibs in der EU: „Es gibt nichts Demokratischeres, als eine Wahl über die Brexit-Optionen anzufordern.“ Nach ihm betritt eine Gruppe junger Menschen aus allen Teilen des Vereinigten Königreichs – Nordirland, Schottland, England und Wales – die Bühne. Auch sie sprechen sich einzeln für eine Volksabstimmung aus.

Am bewegendsten unter den vielen Sprecher*innen ist aber Shakira Martin, die Präsidentin der nationalen Studentengewerkschaft (NUS). Sie hat ihre beiden kleinen Mädchen im Vorschulalter mit auf die Bühne gebracht, denn der Brexit werde auch deren Zukunft stark beeinflussen: „Der beste Weg, die Zukunft vorherzusagen, sei, sie selber zu formen“, erklärt sie der versammelten Menge und jubelt über die Möglichkeit einer Volksabstimmung.

Schreiben, schreiben, schreiben

Gemeinsam rufen die Veranstal­ter*in­nen die Anwesenden dazu auf, die Stimme der Demo in alle Orte Großbritanniens zu tragen. Essenziell wichtig sei es auch, die parlamentarischen Abgeordneten direkt anzuschreiben.

Gegen Ende der Demo haben viele Teilnehmer*innen die Außenwände und Türen des Kabinettgebäudes mit knallgelben „Bollocks to Brexit“-Aufklebern plakatiert. Daneben war eine ganze Galerie von Plakaten zu sehen – sie zeigen die „Lügner*innen des Brexit“, wie Politiker*innen wie Boris Johnson, Jacob Rees-Mogg, Preeti Patel und David Davis genannt waren.

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4 Kommentare

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  • Die Briten tun mir irgendwie leid !



    Denn: GB ist seit Thatcher sehr harsch `neoliberal ausgemergelt´ der einstige Sozialstaat ist kaputtgemacht worden ! .. das gab m.E. den britischen Populisten und Nationalisten Vorschub ! Die neoliberale EU war das Schreckgespenst dem es zu entfliehen galt..



    Und die Entwicklung der Labour Party durch Mr. Jeremy Corbyn versucht die hässliche Tory Strategie der Festschreibung der neoliberalen Sozialen Bedingungen in GB zu überwinden ! Und nun ? ..ein britisches "Heim ins Reich" der EU neoliberalen Kultur ?



    Das erscheint wie eine Wahl zwischen "Pest oder Cholera" !



    Zu hoffen bleibt , das die Strategie der Labour Party und Mr. Corbyns durch ein evtl neues "NEIN" zum Brexit nicht auf der Strecke bleibt...

  • 9G
    90634 (Profil gelöscht)

    Wenn man ein erstes Referendum einfach durch ein zweites rückgängig machen kann braucht man erst gar keines abzuhalten.

    Die Briten hatten ihre Chance. Das enorme Mimimi, welches nicht zuletzt von einem nicht unerheblichen Anteil junger Menschen kommt, die es nicht für nötig hielten, am Referendum teilzunehmen, offenbart ein erbärmliches Demokratieverständnis. Solange abstimmen bis das Ergebnis passt?

    • @90634 (Profil gelöscht):

      "Wenn man ein erstes Referendum einfach durch ein zweites rückgängig machen kann braucht man erst gar keines abzuhalten." In Anbetracht dessen, dass der Austritt noch nicht einmal stattgefunden hat, eine verständliche Haltung. Andererseits ließe sich auch sagen: Wenn ein Referendum (mutmaßlich) durch massive Fehlinformations-Kampagnen entschieden wird, braucht man erst gar keines abzuhalten.

      Das Ergebnis war denkbar knapp, wenn ich richtig erinnere. Die mangelnde Beteiligung junger Menschen mag Ihren Anteil gehabt haben. Ob es sich aber letztlich nicht doch aufgrund der teils mehr als fragwürdigen "Leave-Kampagne" entschieden hat, wird schwer messbar sein. Spätestens nach dem Mord an der Abgeordneten wurde es doch dringend nötig, die Umstände in Frage zu stellen.

      Das "MiMiMi" kommt nun vielleicht nicht unerheblich auch von ehemaligen Befürwortern des Brexits, die nicht mehr alles so rosig sehen und deren Abstimmung evtl. entscheidend war.

      Ob es ein zweites Referendum geben sollte, da bin ich selbst zwiegespalten; liegt onehin nicht in meinem Einflussbereich. Aufgrund der Umstände/Größenordnung und der möglichen Folgen ist der Aufruhr aber absolut nachvollziehbar.

      • @yume:

        Warum es kein Referendum über das Ergebnis der Brexit-Verhandlungen gibt?



        Diejenigen, die einst die massive Fehlinformations-Kampagne initiierten, sind immer noch aktiv. Teils sind es US-Nationalisten und Trump-Unterstützer (Cambridge Analytica war für beide tätig), teils britische Banken und Finanzinvestoren (die Umwelt- und Sozial-Standards herunterfahren wollen) und schließlich Putins Russland, dessen Präsident keine Gelegenheit auslässt, der EU zu schaden (steht sie doch Alexander Dugins „Neo-Eurasismus“ im Weg).

        Wer oder was sollte diese Parteien daran hindern, weiter das Brexit-Lager zu unterstützen und dafür sämtlich print-Medien einzuspannen?