Ermitteln gegen die Zeit: Mord verjährt nicht
Wenn alte Mordfälle wieder aufgerollt werden, schlägt die Stunde der Kriminalpolizei. Sind die „Cold Cases“ ihre neue Paradedisziplin?
Auch nachdem sich Senior Detektive Lilly Rush einem Fall gewidmet hat, landet er wieder bei den Akten. Diesmal aber steht meist der große Schriftzug „Closed“ auf der Box, der markiert, dass der Fall endlich abgeschlossen ist. Mit feinfühligen Gespräche mit Angehörigen der Opfer, geschickten Befragungen der Zeugen, der Auswertung neuer Indizien hat Rush in Philadelphia zahlreiche teils lange zurückliegende Kriminalfälle gelöst. Zumindest, bis die TV-Produktion „Cold Case“ 2010 zu Ende ging.
Es ist zu einem Großteil diese US-Fernsehserie, die Ermittlungen dieser Art bekannt gemacht hat. Als „Cold Cases“ werden auch im echten Leben ungeklärte Fälle bezeichnet, bei denen ein dringender Verdacht auf ein Tötungsdelikt besteht, das im Fall eines Mordes nicht verjährt, bei denen die Strafverfolgungsbehörden die Akten aber geschlossen haben.
Vor allem neue Methoden bei der DNA-Analyse ermöglichen es heute, mit Hilfe kleinster Spuren Ergebnisse zu erzielen. In staubigen Akten und in den Tüten der Asservatenkammern schlummern neue Möglichkeiten und Ermittlungsansätze. Bislang ist es die Regel, dass Mordermittler sich immer mal wieder solche alten Akten vornehmen. Sobald aber ein aktueller Mord geschieht, hat das Priorität.
Seit Ende 2016 kümmert sich in Hamburg eine eigene Spezialeinheit um ungelöste Altfälle. Auch in anderen Bundesländern steht das Thema auf der Tagesordnung. In Niedersachsen etwa hat die Polizei in 268 Tötungsdelikten oder versuchten Tötungen, die länger als ein Jahr zurückliegen, bis heute keinen Täter identifiziert. Bei 26 Vermissten gehen die Ermittler zudem von Tötungen aus. Eine eigene Einheit beim Landeskriminalamt wie in Hamburg ist in Niedersachsen allerdings nicht geplant. Stattdessen soll es für alte, ungelöste Fälle eine Datenbank geben, die Ermittlern aus allen Polizeidirektionen zugänglich ist.
Filmreife Szenen
Filmreif, aber real, sind Szenen, die sich derzeit in Bremen bei Ermittlungen zu einem Fall beobachten lassen, der 25 Jahre zurückliegt. Ein ganzer See ist Anfang Oktober leergepumpt worden, 260 Meter lang, 80 Meter breit, rund 35 Millionen Liter Wasser. Die Ermittler hoffen, im Tietjensee die Leiche einer Frau zu finden, die verschwunden ist, ihr Lebensgefährte steht deswegen derzeit vor Gericht. Doch lohnt sich das? Für einen Fall von vor 25 Jahren? Andernorts konnten lang zurückliegende Taten aufgeklärt werden, führten aber zu Tätern, die bereits verstorben oder wegen anderer Morde längst eingesperrt sind.
Als Gericht sei man es dem Opfer und den Angehörigen schuldig, „alles Menschenmögliche zu tun“, so hatte es in Bremen der Sprecher des Landgerichts erklärt. Angeklagt sei immerhin ein Kapitalverbrechen. Ähnlich beschreibt Steven Baack in Interviews, was ihn als Leiter der Hamburger Cold-Case-Einheit antreibt: „Wir wollen den Tätern klar machen, dass sie nie sicher sind – und den Opfern, dass wir sie nie vergessen.“ Das sagte er dem NDR, ein paar Monate, nachdem seine Einheit ihre Arbeit begann.
Geht es also um die Opfer und die Angehörigen und das Ergreifen eines gefährlichen Täters, wie es Ermittler und Gericht betonen? Oder geht es auch allgemeiner um Abschreckung anderer, potenzieller Täter und das gesellschaftliche Vertrauen in den Rechtsstaat? Die meisten Morde seien nicht geplant, sondern geschehen spontan aus dem Affekt, erklären Kriminalisten. Kann Abschreckung da greifen? Andererseits gehört zu Cold-Case-Ermittlungen, das sieht man am Bremer Tietjensee, die öffentliche Inszenierung. Termine für Pressebesichtigungen begleiteten das Abpumpen des Wassers, der Fall füllte tagelang die Schlagzeilen. Auch die Arbeit der jungen Hamburger Cold-Case-Einheit ist eines der beliebtesten Themen der Gazetten und Radiostationen.
Angesichts der in Deutschland herrschenden Idee über den Sinn und Zweck der Bestrafung kann man wohl sagen: Es geht mindestens um beides. Die Straftheorie unterscheidet zwischen der sogenannten Spezial- und der Generalprävention: Spezialprävention, um den Täter von weiteren Taten abzuhalten und ihn womöglich zur Besserung zu erziehen; Generalprävention, um andere von ähnlichen Taten abzuschrecken und das Vertrauen in den Rechtsstaat zu stärken. Hinzu tritt ein dritter Aspekt: die Gerechtigkeit, metaphysisch, ohne sozialtechnische Funktion. Wo es aber um Gerechtigkeit geht, darauf verweisen Rechtskritiker, heiligt der Zweck schnell die Mittel. Die Gefahr besteht, die rechtsstaatliche Grenzen zu strapazieren.
Vermutlich war es der Übereifer der Cold-Case-Ermittler, der in Hamburg vor ein paar Tagen zu einem Freispruch führte. Nach 38 Jahren stand ein Mann wegen versuchten Mordes vor Gericht. Am 1. November 1980 soll er in Hamburg-Steilshoop mehrfach auf ein Mädchen eingestochen, sie dann in ein Gebüsch gezerrt und versucht haben, sie zu vergewaltigen. Bei den neuerlichen Ermittlungen aber lief anscheinend einiges schief. In der Begründung des Freispruchs fand die Richterin deutliche Worte auch zur Arbeit der Cold-Case-Einheit, wie der Spiegel berichtet. Vieles habe darauf hingedeutet, dass das Opfer, der Angeklagte und auch der wichtigste Zeuge von den Ermittlern „höchst suggestiv“ befragt und „gegebenenfalls sogar getäuscht“ wurden. „Hätten wir zu Beginn gewusst, was wir heute wissen, hätten wir das Verfahren gar nicht eröffnet“, so die Richterin.
Auch Richter Helmut Kellermann, der in Bremen das Verfahren im Zusammenhang mit dem abgepumptem Tietjensee führt, hatte die Eröffnung des Prozesses zunächst abgelehnt. Erst das Oberverwaltungsgericht zwang das Landgericht zu verhandeln. Wie schwierig das nun ist, zeigte sich vor ein paar Tagen bei der Befragung des Mannes, der 1994 als Junge den Tietjensee überhaupt erst in den Fokus rückte, weil er dort eine Tüte mit Sachen der Verschwundenen fand. Kaum noch kann er sich erinnern, was überhaupt noch in der Tüte war, die er damals aus dem See fischte und die auf ein Verbrechen hindeuteten. Rote Pumps? Eine Zahnbürste der Marke „Oral B“? Ein Lippenstift? Auch ob die Vermisste womöglich nach ihrem Verschwinden noch in einer Disko gesehen wurde, sie demnach abgehauen sein könnte und es zu gar keinem Verbrechen kam? Auf Zeugen zu setzen, ist nach so langer Zeit schwierig. Die reale Welt kennt keine Rückblenden.
Verteidiger Horst Wesemann, der den angeklagten ehemaligen Lebensgefährten vertritt, drängt auf eine Beschleunigung. Er verweist auf Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention, in dem es um das Recht auf ein faires Verfahren geht, und in dem es auch heißt, dass dieses „innerhalb angemessener Frist“ verhandelt werden müsse.
Jasper von Schlieffen, der Geschäftsführer des Organisationsbüros der Strafverteidigervereinigungen, erklärt, dass Cold-Case-Verfahren auch für die Verteidigung eine Herausforderung sind. „Es ist extrem schwierig, nach 40 Jahren noch ein Alibi zu beweisen“, sagt er. Zeugen seien verstorben, Erinnerungen verblasst. In anderen Schwurgerichtsverfahren sei die Schuldfähigkeit ein Standardthema, also die Frage, ob jemand alkoholisiert, depressiv oder psychotisch war. „Wenn man keine ärztlichen Unterlagen mehr hat, kann man eine auf den Tatzeitpunkt bezogene Einschränkung der Schuldfähigkeit aber nicht mehr feststellen.“
Hilfe für zu Unrecht Verurteilte
Gleichwohl zweifelt auch von Schlieffen nicht am Sinn von Cold-Case-Ermittlungen. Er wünscht sich aber eine Ausweitung in eine andere Richtung wie etwa beim Innocence Project in den USA. Diese NGO versucht, vor allem auf Grundlage neuer DNA-Analyse-Techniken, Justizirrtümer aufzuklären. Bei über 250 Menschen wurde bereits die Unschuld bewiesen, mehrere Todesstrafen aufgehoben. „So etwas gibt es in Deutschland noch nicht“, sagt von Schlieffen. „Kein Mensch kümmert sich um jemanden, der verurteilt ist und sitzt.“ Sich eigenständig darum zu kümmern, sei extrem aufwendig und teuer – und man bräuchte Zugriff auf bereits gesicherte Spuren.
Irrtümer jedoch kommen auch zustande, wenn Menschen in Verdacht geraten, sie wegen ausbleibender Ermittlungen aber ihre Unschuld nie beweisen können. So war es etwa auch im Fall von Birgit Meier aus Lüneburg. Sie verschwand 1989, seit 1994 ruhten die Ermittlungen. Die Polizei verdächtigte zunächst ihren Ehemann. Dieser habe sie finanzieller Vorteile wegen umgebracht, so der Verdacht, es lief ein Scheidungsverfahren. „Die Leute haben seitdem über ihn getuschelt“, erklärt Wolfgang Sielaff. Er ist der Bruder von Birgit Meier. „Mein Schwager ist 25 Jahre als Mörder seiner Frau herumgelaufen. Und er ist bis heute nicht rehabilitiert.“
Sielaff ist einer, der ohne Wenn und Aber dafür kämpft, dass Cold-Case-Einheiten ausgebaut werden. Hört man ihm zu, ist es schwer, sich seinen Argumenten zu entziehen. Er war lange Landesvorsitzender der Opferschutz-Initiative „Weißer Ring“ in Hamburg, davor Chef des Hamburger Landeskriminalamts. Mit der Ungewissheit um das Schicksal seiner eigenen Schwester musste er jahrelang leben.
Es ist Sielaff zu verdanken, dass der Mord an seiner Schwester jetzt aufgeklärt werden kann. Nach seiner Pensionierung ermittelte er privat, zusammen mit einem kleinen Team an Freiwilligen, darunter der Hamburger Rechtsmediziner Klaus Püschel. Sielaffs Kontakte halfen ihm. Im Oktober 2017 fand er die Leiche seiner Schwester in einer Grube auf dem Grundstück des mutmaßlichen „Göhrde-Mörders“ Kurt-Werner Wichmann.
Leben aus den Fugen
„Wenn in eine Familie ein Verbrechen einschlägt, gerät das ganze Leben in Sekundenbruchteilen aus den Fugen, nichts bleibt mehr wie es einmal war“, erklärt Sielaff. „Das haben auch wir erleben müssen.“
Er selbst sei nach dem Verschwinden seiner Schwester in seinem Beruf stark gefordert gewesen, das habe ihn abgelenkt. Seine Mutter hingegen habe psychisch stark unter der unaufgeklärten Tat gelitten und sei darüber gestorben. „Sie hat bis zuletzt gehofft, dass die Tür aufgeht und ihre Tochter eintritt.“
Die Verarbeitung eines Verbrechens in der Familie sei anders, als etwa nach dem Verlust eines Angehörigen durch einen Unfall. „Beim Unfalltod eines Angehörigen gibt es eher die Möglichkeit, mit dem Geschehen abzuschließen.“ Auch hier gebe es kein Vergessen, aber man wisse, was passiert ist. „Es gibt ein Grab, einen Ort der Trauer“, so Sielaff. Der Fall seiner Schwester unterscheide sich insofern noch von anderen Mordfällen, weil sie über ein Vierteljahrhundert spurlos verschwunden war.
Dass es viel Aufwand sei, es bei der Polizei zu wenig Personal und Ressourcen geben könnte, um lang zurückliegende Fälle zu bearbeiten? Diese Begründung könne nicht akzeptiert werden, so Sielaff. „Schließlich geht es um die schwersten Verbrechen, die unser Strafgesetzbuch kennt. Die Angehörigen und Hinterbliebenen haben einen Anspruch auf effektive Strafverfolgung. Das hat das Bundesverfassungsgericht schon vor Jahren festgestellt.“ Und darauf besteht Sielaff auch, wenn der verdächtige Täter bereits verstorben ist, wie im Fall seiner Schwester.
Ordnende Funktion
Auch der pensionierte Polizist verweist auf die gesellschaftlich ordnende Funktion, die mit der Aufklärung ungelöster Fälle zusammenhängt. Und die Ohnmacht der Betroffenen könne zur Staatsverdrossenheit führen. Vor allem aber verweist er auf den Frust, die Verzweiflung und die Wut der Betroffenen, wenn schwerste unaufgeklärte Verbrechen vom Staat nicht wahrgenommen und beachtet werden.
Natürlich wühle es wieder auf, wenn ein Verfahren erneut aufgenommen wird. „Es dominiert aber die Dankbarkeit darüber, dass sich wieder um den Fall gekümmert wird. Das ist den Betroffenen das Wichtigste, obwohl sie auch hoffen, dass der Fall doch noch geklärt wird.“
Wer Sielaff zuhört, kann erahnen, dass unaufgeklärte Taten im Fernsehen der Stoff für Krimis sind, im echten Leben für die Betroffenen aber der Horror.
Mehr über den Umgang der Polizei mit unaufgeklärten Mordfällen finden sie in der gedruckten Wochenendausgabe der taz.nord oder hier.
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