schlagloch: Jenseits von Ankara
Zwischen Ethnisierung und Identitätsbehauptung: Wie kann ein neues deutsches Muslim-Sein jenseits einer (Selbst-)Ghettoisierung aussehen?
Charlotte Wiedemann
ist freie Autorin und wurde mit ihren Reisereportagen aus muslimischen Ländern bekannt. Im März 2017 erschien von ihr: „Der neue Iran. Eine Gesellschaft tritt aus dem Schatten“ (dtv)
Die Schlagloch-Vorschau:
2. 10. Jagoda Marinić
9. 10. Hilal Sezgin
16. 10. Mathias Greffrath
23. 10. Georg Seeßlen
30. 10. Nora Bossong
6. 11. Ilija Trojanow
Kann es einen „deutschen Islam“ geben, der nicht vom Innenministerium definiert wird? Sondern der im Gegenteil ein Ausdruck von Selbstbewusstsein und Emanzipation wäre? Die Debatte darüber wird hitzig geführt, nicht ganz zufällig just vor dem Besuch von Präsident Erdoğan – aber keineswegs nur deswegen.
Das Deutsch-Islam-Projekt wird von einem Kreis jüngerer Intellektueller um die Alhambra-Gesellschaft vorangetrieben; dazu zählen der Publizist Eren Güvercin und die Islamwissenschaftlerin Nimet Şeker, auch zwei aktive Grüne sind dabei, sowie der Rechtsanwalt und Blogger Murat Kayman, allesamt bekannte Namen in der muslimischen Zivilgesellschaft jenseits der großen Verbände.
Zunächst: Von einem deutschen Islam zu sprechen ist nicht neu. Denn der Islam kam entgegen landläufiger Mythen nicht mit den ersten Gastarbeitern. Die Anfänge der „Deutschen Muslim-Liga“ reichen in das Jahr 1949 zurück; einheimische Muslime, sogenannte Konvertiten, sprachen in der alten Bundesrepublik über zwei Jahrzehnte für den Islam – etwa der Volkshochschulleiter Wolf Ahmed Aries. Muslime wie er würden heute kaum mehr zu Islam-Debatten geladen, schreibt Aries, weil die Öffentlichkeit lieber mit denen streite, die zur Projektion von Fremdheit und Andersartigkeit taugten.
Zu den herkunftsdeutschen Muslimen zählen Pionierinnen eines feministischen Islam wie die Theologin Rabeya Müller und die Initiatoren der „Islamischen Zeitung“: Mitte der 1990er Jahre in Weimar gegründet und stets die ethnische Struktur des hiesigen institutionellen Islam kritisierend. Herausgeber Abu Bakr Rieger sieht die Muslime heute in einer „Identitätspolitik“ verfangen, die mit jener auf Seiten der Rechten Gemeinsamkeiten habe. Das ist nun die Nahtstelle zur jüngsten Debatte.
Sie wird mit Schärfe geführt und einer doppelten Dringlichkeit, denn es gilt auf den Rechtspopulismus ebenso zu antworten wie auf den Machtanspruch des türkischen Staates über hiesige Muslime. Ein gewachsener Anteil von Türkischstämmigen fühlt sich der Türkei heute näher als Deutschland: Das zeigt, was sich verändert hat. Eren Güvercin vom Vorstand der Alhambra-Gesellschaft nennt es „eine massive Reethnisierung“.
Zunächst geht es dabei um die Rolle des größten Moschee-Verbands, die „Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion“ (Ditib). Wenn Präsident Erdoğan am Sonnabend deren neue Zentralmoschee in Köln eröffnet, markiere das den Status der Ditib als bloße Deutschland-Filiale der türkischen Religionsbehörde, schreibt der Blogger Murat Kayman. AKP-nahe Medien werfen ihm und der Alhambra-Gesellschaft vor, die Muslime zu spalten und sich dem deutschen Staat an die Brust zu werfen. Die Veröffentlichung unabhängiger „Freitagsworte“ durch die Alhambristen ist aus dieser Sicht bereits ein Delikt.
„Dass jemand sein Gesicht der deutschen Gesellschaft zuwendet, ist für sie nur ein Zeichen der Anbiederung, der Gefallsucht oder der Selbstverleugnung“, schreibt Murat Kayman. „Sie kennen das Gefühl nicht, in Deutschland eine Heimat gefunden zu haben, ohne die türkische Heimat aufzugeben oder zu verleugnen. Diese Mehrdeutigkeit ist ihnen suspekt …“
Wer heute von einem deutschen Islam sprechen möchte, ringt vorrangig nicht mit bosnischem oder marokkanischem Einfluss, sondern mit türkischem. Dass in Deutschland 800 Imame predigen, die vom türkischen Staat bezahlt werden, wäre auch unter einem anderen türkischen Präsidenten bedenklich. Aber was kann man sich darüber hinaus unter einem deutschen Islam vorstellen?
Eren Güvercin spricht von einem „entghettoisierten Islam“, der die geistigen ethnischen Ghettos überwinde. Spiritualität solle sich in deutscher Sprache ausdrücken, damit für die Mehrheitsgesellschaft nachvollziehbar sei, „warum es für deutsche Muslime schön ist, Muslim zu sein.“ Ein drittes Beispiel: Die Zakat, die muslimische Vermögenssteuer, solle nicht als Almosen ins Ausland transferiert werden, sondern ihrer religiösen Bestimmung gemäß zur Verantwortung für Bedürftige im eigenen Gemeinwesen genutzt werden – was ja nicht notgedrungen Muslime sind.
Entscheidender als solche Beispiele ist jedoch: Die Debatte über einen deutschen Islam hat heute ein anderes Umfeld als vor zwei Jahrzehnten. Weil die Frage „Was ist deutsch?“ zunehmend anders beantwortet wird. Es ist kein Alleinstellungsmerkmal von Muslimen, wenn sie als Staatsbürger Gleichheit reklamieren und zugleich auf einer Verschiedenheit bestehen, die wie im Fall des Kopftuchs auch sichtbar sein soll. In einer pluralen Gesellschaft gibt es eben mehr Verschiedenheiten als nur die religiösen. Es kann also gerade in der gegenwärtigen Atmosphäre eine sinnvolle Strategie sein, das Deutsche zu reklamieren – so wie sich Migranten-Bündnisse als „Neue Deutsche Organisationen“ bezeichnen.
Spirituell betrachtet ist Islam hingegen nicht national zu definieren. Das Attribut „deutsch“ kann also keine religiöse Praxis von Seehofers Gnaden meinen, auch wenn sich manche so etwas vorstellen mögen: den weichgespülten, topsäkularisierten Reformmuslim. Dafür stehen die Alhambristen nicht. Sie wollen sich aber auch nicht als People of Color definieren, was das progressive Gegenangebot darstellt: Behaupte Dich als Muslim, indem Du ein intersektional diskriminierter Migrant bist.
Derart auf die rechte Rassifizierung von Muslim-Sein zu antworten, ist letztlich defensiv. Wer Religion ernst nimmt, könnte fragen: Was tragen Muslime bei zu den großen Debatten der Zeit? Wie betrachten sie die Allmacht der Ökonomie? Wie definieren sie Solidarität? Wer so debattiert, wäre vermutlich ein deutscher Muslim, eine deutsche Muslima.
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