Chefredakteur über Wandel und Vielfalt: „Das Lokale hat Zukunft“
Das Redaktionsnetzwerk Deutschland beliefert Regionalzeitungen. Chefredakteur Wolfgang Büchner über Vielfalt und Wandel im Journalismus.
Donnerstag vergangener Woche. Am Tag zuvor sind in Genua beim Einsturz einer Brücke gut 40 Menschen umgekommen. Der türkische Präsident Erdoğan will Elektronik aus den USA boykottieren, und deutsche Politiker diskutieren darüber, ob es richtig ist, Erdoğan im September in Deutschland zu empfangen. In den beiden Tageszeitungen von Hannover, wo Deutschlands größter Regionalzeitungsverlag Madsack sitzt, erscheinen exakt dieselben Texte zu diesen Themen, geschrieben von denselben Autoren. Die Neue Presse und die Hannoversche Allgemeine Zeitung sind Teil des Redaktionsnetzwerks Deutschlands (RND), der zentralen Redaktion von Madsack. Das RND beliefert gut 40 Regionalzeitungen mit Texten und teilweise fertig produzierten Zeitungsseiten und hat damit eine Gesamtauflage von 1,4 Millionen Exemplaren täglich. Die Regionalzeitungen sparen sich so ihre Redaktion für die Mantelseiten, also den überregionalen Teil. Madsack verdient Geld als Dienstleister. Chefredakteur des RND ist Wolfgang Büchner. Er empfängt in seinem Büro im 8. Stock mit Blick ins Grüne.
taz am wochenende: Herr Büchner, welche Zeitung soll ich mir heute in Hannover kaufen? Es scheint ja in beiden dasselbe zu stehen.
Wolfgang Büchner: Das stimmt nicht. Vor allem im Lokal- und auch im Sportteil unterscheiden sich die Zeitungen. Für welche Sie sich entscheiden, hängt von Ihrem Geschmack ab: Mögen Sie eher eine plakative Darstellung von Land und Leuten, eine Nahaufnahme der lokalen Prominenz und eine ausführliche Sportberichterstattung, dann kaufen Sie die Neue Presse. Bevorzugen Sie eine tiefere Berichterstattung über Lokalpolitik und die regionale Wirtschaft sowie ein umfassenderes überregionales Angebot, dann kaufen Sie die Hannoversche Allgemeine Zeitung.
Was ist der Vorteil einer zentralen Mantelredaktion?
Das RND ist keine klassische Zentralredaktion, sondern besteht aus Partnerschaften mit anderen Redaktionen. Wir sind ein Netzwerk. Sie können mit deutlich mehr Kollegen eine sehr viel bessere überregionale Berichterstattung liefern, als das ein einzelner Titel allein jemals könnte. Nehmen wir die nationale Politik: Früher hatten viele Regionalzeitungen jeweils einen einzigen Korrespondenten in Berlin. Der hat ausschließlich für seine Zeitung recherchiert, geschrieben und kommentiert. Zusätzlich haben die Zeitungen die Texte der dpa gedruckt. Das Berliner Büro des RND hat demnächst 18 Redakteure. Da hat jeder sein Spezialgebiet, seine Expertise und seine eigenen Quellen. Das beschert jeder einzelnen Regionalzeitung mehr Qualität und exklusive Inhalte, als sie allein stemmen könnte.
Aber wenn viele dasselbe drucken, geht publizistische Vielfalt verloren.
Ich finde es wertvoller, die Vielfalt von Regionalzeitungen überhaupt zu erhalten, als zuzuschauen, wie Zeitungen im Stolz sterben, weil sie versuchen, ihre Mantelredaktion aufrechtzuerhalten, was sich wirtschaftlich nicht rentiert. Dann ist es doch besser, wenn sich Lokalzeitungen auf das konzentrieren, was sie am besten können, nämlich die Berichterstattung über das Lokale und Regionale.
Wolfgang Büchner, Jahrgang 1966, wurde 2008 Co-Chefredakteur von Spiegel Online und 2010 Chefredakteur der Deutschen Presseagentur, die er aus den roten Zahlen holte. 2013 leitete er Spiegel und Spiegel Online, die Redaktion verließ er 2014 nach heftigem Streit. Ab 2015 war er Chefredakteur der Schweizer Blickgruppe. Seit 2017 ist er Chefredakteur des Redaktionsnetzwerks Deutschland.
Die regionale Verwurzelung ist nicht nur in der Lokalberichterstattung wichtig. Beispiel Dieselaffäre: Die wird hier bei Ihnen in Niedersachsen anders bewertet als beispielsweise bei der Ostsee-Zeitung.
Das stimmt. Aber der Chefredakteur der Ostsee-Zeitung ist ja frei, jederzeit eigene Komponenten und regionale Aspekte in die Seiten einzubringen. Und er kann jederzeit selbst einen Leitartikel zum Thema schreiben, auch wenn er den Nachrichtentext aus unserem RND-Newsroom in Hannover übernommen hat. Die Frage ist doch: Was erwarten Leser von ihrer Lokalzeitung? Die meisten erwarten, dass die Redaktion die Vorgänge im Lokalen im Blick hat und klug kommentiert. Ist es wirklich ein Mehrwert, wenn sich der Chefredakteur einer Lokalzeitung Gedanken über die Vorgänge in China macht? Er kann das gern tun, aber ich glaube, der Leitartikel ist kundiger und kreativer, wenn jemand einen Vorgang in China kommentiert, der sich überwiegend mit solchen Themen beschäftigt.
… und die Verlage sparen Geld durch die Zentralredaktionen.
Wenn es statt 20 kleiner Mantelredaktionen eine große Redaktion für ein Netzwerk von Zeitungen gibt, kann es schon sein, dass in dieser weniger Leute arbeiten, als zusammengenommen in den früheren Mantelredaktionen. Trotzdem bleibt für mich richtig: Zentralredaktionen sind kein Spar-, sondern ein Investitionsmodell – eine Investition in journalistische Qualität.
Sehen das die Redakteure, die wegen der Zentralisierung ihren Job verloren haben – zuletzt mehrere Onlineredakteure in Lübeck, Kiel und Rostock – genauso?
Zunächst einmal schaffen wir im Rahmen unserer Digitaloffensive 70 neue Jobs. Und wir organisieren die Produktion unserer regionalen Websites neu. Wir haben allen Kolleginnen und Kollegen in den regionalen Onlineredaktionen angeboten, an den neuen RND Digital Hub nach Hannover zu wechseln. Auch beim Aufbau des RND Digital Hub leitet uns der Netzwerkgedanke: Wir hatten bisher an zwölf Standorten kleine Onlineteams, mal mit fünf Leuten, mal mit zwei oder einem. Wie sollen denn so kleine Teams die Website einer Lokalzeitung rund um die Uhr an sieben Tagen in der Woche bespielen, Social Media bedienen, Kommentare beantworten und so weiter? Aus unserer Sicht ergibt es mehr Sinn, wenn wir hier ein starkes Team mit digitalen Blattmachern für alle Madsack-Titel gemeinsam aufbauen. Die ersten Erfahrungen mit dem neuen Modell sind sehr positiv: Im Juli haben wir auf den Websites all unserer Tageszeitungstitel Rekordzugriffe verzeichnet.
Das Kartellamt hat gerade zugestimmt, dass Madsack mit der Verlagsgruppe DuMont ein gemeinsames Hauptstadtbüro aufbaut. Wie weit sind Sie damit?
Wir sind gerade dabei, die RND Berlin GmbH zu gründen, und haben die Korrespondentenstellen ausgeschrieben. Im Oktober soll das Büro die Arbeit aufnehmen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Alle acht Redakteure des bisherigen Berliner RND-Büros werden übernommen. Das DuMont-Büro wird dafür geschlossen, den 17 Kollegen wurde gekündigt. Sie können sich bei Ihnen neu bewerben, aber nicht für alle gibt es eine Stelle. Ist das fair?
Wir schreiben in Berlin 10 Stellen aus und geben den Leuten die Chance, in ein tolles Team zu kommen. In dem Berliner DuMont-Büro gibt es hervorragende Kollegen, und wir freuen uns, wenn sie sich bewerben.
Sie werden DuMont nicht nur mit Texten, sondern zum Teil mit komplett produzierten Zeitungsseiten beliefern – Bilder, Überschriften, Layout inklusive. Ist das der Anfang einer schleichenden Übernahme dieser Zeitungen?
Wir beliefern den Kölner Stadtanzeiger mit produzierten Politik- und Wirtschaftsseiten. Die Boulevardblätter Express, Hamburger Morgenpost und Berliner Kurier mit Politikseiten, die Berliner Zeitung mit Wirtschaftsseiten. Darüber hinaus erhält die Berliner Zeitung Inhalte, um ihre Politikseiten selbst zu bauen, die Mitteldeutsche Zeitung erhält Inhalte für ihre Politik- und Wirtschaftsseiten. Wenn die Kollegen irgendwann mehr wollen, sind wir in der Lage, das zu liefern. Das ist im Übrigen nicht außergewöhnlich: Jeder Partner im RND-Netzwerk bekommt ein auf seine Bedürfnisse zugeschnittenes Paket – von einzelnen Inhalten bis zu kompletten Seiten.
Mit den Zeitungen von DuMont kommen erstmals Boulevardblätter in Ihr Netzwerk. Wie verändert das Ihre Arbeit?
Wir werden ein bis zwei Boulevardprofis einstellen, die die Hauptstadtthemen für die entsprechenden Blätter aufbereiten. Die Vergrößerung des Berliner Büros bedeutet für alle Veränderung: Die Kollegen müssen ihre Themengebiete neu aufteilen und ihre Arbeitsweise umstellen. Wir arbeiten in der ganzen Redaktion, auch hier in Hannover und an allen anderen Standorten der Madsack-Mediengruppe, gerade an einer Web-to-Print-Arbeitsweise. Das heißt, Themen sollen so aufbereitet werden, dass sie zuerst für die digitalen Angebote produziert werden, bevor wir uns mit der gedruckten Zeitung beschäftigen.
Mit dieser Arbeitsweise bereiten Sie die Redaktion auch auf das Onlinenachrichtenportal RND.de vor, das sie demnächst starten wollen?
Wir sind mitten in der Entwicklung. Wir wollen uns als starke, seriöse Nachrichtenmarke im Netz etablieren und hoffen, dass wir das Portal Anfang des Jahres starten können.
Wird das eine Art Spiegel Online (SpOn)?
Die großen Nachrichtenseiten SpOn, bild.de oder focus.de sind hinsichtlich ihrer Reichweiten so weit weg, dass es lachhaft wäre, wenn wir sagen würden, wir wollen sie „angreifen“. Doch derzeit machen wir digital einfach nicht genug aus dem erstklassigen journalistischen Angebot des RND. Zwar präsentieren wir exklusive Interviews auf den Portalen unserer Tageszeitungen, doch den Reichweitenerfolg haben dann andere, die diese Interviews bei uns abschreiben. Da ist es doch naheliegend, unsere eigenen überregionalen Inhalte auf einer eigenen Seite zu bündeln. Klar wollen wir auch unsere Reichweite ausbauen. Auf der Liste der meistgeklickten Nachrichtenseiten sind alle Portale des RND gemeinsam derzeit auf Platz 15. Wäre das eine Fußballtabelle, würde ich sagen: Wir wollen in das obere Tabellendrittel, Richtung Europapokal.
Ist es eigentlich Zufall, dass mit Florian Harms von t-online.de und Ihnen zwei geschasste Ex-Chefs von SpOn gerade daran arbeiten, SpOn ein bisschen Wasser abzugraben?
Ja.
Wirklich?
Ich schätze Florian Harms als einen hervorragenden Kollegen und wünsche ihm für t-online.de alles Gute. Mich treibt nicht, eine Konkurrenz zu SpOn aufzubauen. Wir wollen jeden Tag erstklassige journalistische Arbeit abliefern und damit wirtschaftlich erfolgreich sein – auch in einer digitalen Medienwelt.
In dieser Woche wurde Klaus Brinkbäumer als Spiegel-Chefredakteur entlassen – die neue Chefredaktion soll Print und Online zusammenführen. Gleichzeitig sind Spiegel und SpOn gesellschaftsrechtlich zusammengerückt. Beides war auch Ihr Anliegen als Spiegel-Chefredakteur. Dann mussten Sie gehen. Erfüllt es Sie mit Genugtuung, zu sehen, was gerade in Hamburg passiert?
Ich beschäftige mich nicht mit dem Spiegel, sondern damit, wie Madsack noch erfolgreicher werden kann.
Als Sie den Spiegel verließen, hieß es, Sie seien dort vor allem „Change Manager“ gewesen. Auch in der dpa beschreibt man Sie als Manager – allerdings ist das an dieser Stelle anerkennend gemeint. Bei Madsack tragen Sie den Titel „Chief Content Officer“. Sind Sie mehr Manager als Journalist?
Beides. Ich führe hier jeden Morgen die Redaktionskonferenz und nehme die fertigen Seiten ab. Bei großen Nachrichtenlagen, wie beim Brückeneinsturz in Genua, sitze ich natürlich mit am Newsdesk. Zugleich verfolgen wir hier gerade viele große Projekte, und manchmal wünscht man sich da mehr Zeit für die journalistische Arbeit. Aber ich glaube, das geht den meisten Chefredakteuren heute so.
Der Aufbau der Zentralredaktion lief unter dem Namen „Madsack2018“. Stellen wir uns vor, es existiere eine Vision „Madsack 2022“ – gibt es in vier Jahren überhaupt noch Lokalzeitungen?
Sicher. Ich glaube sowohl, dass das Lokale, als auch, dass das Gedruckte Zukunft hat. Weil Lokalzeitungen näher an den Menschen sind als alle anderen journalistischen Angebote. Und weil viele Menschen ein großes Bedürfnis danach haben, auch künftig eine gedruckte Zeitung in die Hand zu nehmen.
In einer früheren Version des Textes war nicht ganz korrekt dargestellt, welche Zeitung welche Inhalte aus der Mantelredaktion erhält. Das haben wir präzisiert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!