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Der Krieg zerstört die Welt

Wiedergelesen (2): Es gibt viele Romane über den Ersten Weltkrieg. Mit „Vaterlandslose Gesellen“ hat sich Adam Scharrer 1930 am weitesten vom neoromantischen Schlachtenjubel entfernt

Wiedergelesen

Unsere Serie stellt in loser Folge Texte und literarische Werke vor, die von Norddeutschland handeln oder deren Autor*innen hier gelebt haben oder beides – und auf die aufmerksam zu machen es Gründe gibt.

Wiedergelesen werden Bücher, weil jeder meint, sie zu kennen, sie aber doch ganz anders verstanden werden müssten, weil keiner sie kennt, obwohl jeder sie kennen sollte, weil man nicht loskommt von ihnen, weil sie in Vergessenheit geraten sind oder weil sie zu Unrecht Ruhm und Publikum eingeheimst haben.

Von Benno Schirrmeister

Was der Krieg bedeutet hat, was es heißt, ihn erlebt zu haben: Dafür ist Erzählen das richtige Medium. Wer sich weder auf den neoromantischen Rausch eines Hannoveraner Apothekersohns einlassen mag, der den Tod „im Gewitter der Schlacht als roter Ritter mit Flammenhufen durch wallende Nebel“ galoppieren lässt – so viel zu Ernst Jüngers „kaltem Blick“ – noch mit Erich Maria Remarque die Flucht in den Kameradschaftsabend der Versehrten antreten will, der ist reif für Adam Scharrer. Der lebte zu Beginn des Ersten Weltkriegs in Hamburg und ist vor 70 Jahren in Schwerin gestorben. Dort hatte er sich nach dem Moskauer Exil niedergelassen.

Scharrer war kein verstörtes Bürgerkind, das erst mühselig lernen musste, dass Sinnsuche im Krieg vergeblich ist: Als Sohn eines Gemeindehirten aus Mittelfranken hat der gelernte Schlosser sich mit 25 Jahren nicht freudig hineingestürzt ins innere Erlebnis der Schlacht. Er hat den Krieg von Anfang an gehasst. Und er verachtet diejenigen, die sich für ihn begeistern: In diesem Krieg sinne jeder nur, „wie er sich vor der großen Ehre, diesem Heldentod, drücken kann“.

Scharrers Held Hans Betzoldt, der stark autobiografische Züge trägt, wird zuletzt, in einer Gruppe von 30 Deserteuren, mit „Ausweisen, die uns der Arbeiter und Soldatenrat von Hannover gab“, gen Berlin ziehen – und Revolution machen: „Karl Liebknecht spricht. Auf dem Schloss weht die rote Fahne“, so geht „Vaterlandslose Gesellen“ zu Ende: Der Titel greift trotzig eine geflügelte Schmähung Wilhelms II. gegen die Sozialisten auf. Scharrer veröffentlichte den Text 1929 vorab in der Roten Fahne, 1930 dann im Wiener Agis-Verlag – „das erste Kriegsbuch eines Arbeiters“.

Das revolutionäre Geschehen nutzt Scharrer dabei nicht als Katharsis oder gar Ziel, das den Krieg nachträglich doch noch rechtfertigen könnte. Eher hält der Krieg die Dynamik des Umsturzes auf und, dieses Wissen ist dem Buch eingeschrieben, schwächt sie soweit, dass er scheitern wird. Das Soldatsein, dem Betzoldt sich nicht entziehen kann, erweist sich als Praxis des Verleugnens, der Verstellung, der mentalen und physischen Selbstverkrüppelung. Sogar, dass er aus Bayern stammt, wird Betzold verheimlichen, als er im Lazarett Landsleuten begegnet, denn die „sind mir zu urwüchsig in ihrer Naivität und Brutalität“. Für Überhöhungen ist hier kein Platz.

Der Krieg zerstört die Welt. Er vernichtet die Einheit der Klasse – und das private Glück, das für Betzoldt in Eilbek bei Hamburg aufgeblüht war: „Der Kirschbaum am Fenster, das Pfeifen der Riemen, das Stampfen der Hobelmaschine, die krachend über Gussplatten ackerte, und das „Zisch-Puff“ des Sauggasmotors war wie Begleitung zu dem Konzert der Vögel. Die Arbeit war erträglich“, beschwört der Anfang des Romans als bemerkenswertes Industrie-Idyll den Alltag in einer „Fabrik für gelochte Bleche“.

Die muss schließen, und bei der jungen Frau aus der Gummiproduktion unweit davon ist Betzoldt auch unten durch: „Ob ich ein Feigling bin – ich weiß es nicht; jedenfalls ist es die Meinung des Mädels und ihres Vaters.“ Denn „ihr Bruder ging freiwillig ins Feld, und ich war die Tage vordem in der Stadt unter denen, die gegen den Krieg demonstrierten“. Frühere Mitstreiter diffamieren ihn als „Miesmacher“. Der Versuch, mit falscher Identität im Gewühl Hamburgs unterzutauchen: aussichtslos. Verrat hat jeden politischen und familiären Zusammenhalt zersetzt, nachdem die Sozialdemokraten im Reichstag in der Stunde der Gefahr das Vaterland nicht im Stich lassen mochten – aber das Proletariat.

Betzoldt lässt Ausflüchte, panisch runtergeplapperte Rechtfertigungsexzesse über sich ergehen, die Geschwätzigkeit des schlechten Gewissens. Er registriert nur die Entfremdung, und wie er selbst zum Außenseiter geworden ist. Um so schlimmer, dass er sich dem kollektiven Sog nicht lange verweigern kann: „Ich schaue über die Reeperbahn. Ein Zug Soldaten kommt daher, dann Geschütze, Bagage, Sanitäter. Dicht stehen die Massen, an den Seiten. Sie bewerfen die Soldaten mit Blumen. Die Soldaten singen. Die Massen singen mit, laufen neben ihnen her. Sie gehen und reiten nach dem Heiligengeistfeld. Ich gehe mit. Ich habe kein Ziel mehr an diesem Tage.“

Betzoldt ist kein pikaresker Antiheld, wie Hans Herbert Grimms vor ein paar Jahren mit großem Hallo wiederentdeckter Emil Schulz, genannt Schlump, kein neuer Simplicissimus. Bei Scharrer ist alles ernst. Er überspielt nicht mit irrer Ausgelassenheit den Kasernenstumpfsinn, er inszeniert weder sein Überleben noch sein Aufbegehren als Bravourstückchen. Drastisch direkt sind die Schilderungen der Kriegsgräuel, aus denen nichts folgt, und die nichts bedeuten, außer Zerstörung: Es ist ein ehrliches Buch. Und frisch geblieben ist sein Zorn.

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