piwik no script img

Schiitisches Pilgerfest mit tödlichem Ende

Bis zu 1.000 Menschen kommen bei einer Massenpanik auf einer Brücke in Iraks Hauptstadt Bagdad ums Leben. Der Auslöser: Gerüchte über einen Selbstmordattentäter. Das Unglück dürfte die Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten erhöhen

VON KARIM EL-GAWHARY

Über 650, vielleicht auch an die 1.000 Tote und mehrere hundert Verletzte – das ist die blutige Bilanz eines schiitischen religiösen Feiertages in Bagdad. Eigentlich wollten mehrere hunderttausend Wallfahrer zu Ehren des Geburtstages des schiitischen Heiligen Imam Musa Kazim zu dessen Grab in Bagdad pilgern. Die Nerven der schiitischen Pilger lagen bereits blank, nachdem sie am Vormittag mit Granatwerfern beschossen worden und 16 Menschen, meist Frauen, umgekommen waren. Bei einem zweiten Granatenangriff starben 35 Pilger direkt vor der Kazimija-Moschee in Bagdad.

Doch das sollte sich nur als Vorspiel für ein wesentlich größeres Blutbad erweisen. Als sich unter den Pilgern zwei Stunden später bei der Überquerung der Al-Aima-Brücke über den Tigris das Gerücht verbreitete, ein Selbstmordattentäter habe sich auf der Brücke postiert, brach totale Panik aus. Bei dem Versuch der Menschenmassen, zu fliehen, brach das Brückengeländer. Die meisten Opfer wurden zu Tode getrampelt, andere stürzten in den Fluss. Das Gesundheitsministerium sprach gestern Nachmittag von 695 Toten und erklärte, die Zahl könnte auch bis 1.000 steigen. Bei den meisten handelt es sich nach Angaben des Innenministeriums um Frauen und Kinder.

Arabische Fernsehsender zeigten Krankenhäuser, auf deren Gängen dutzende von mit Tüchern abgedeckte Leichen zu sehen waren. Verzweifelte Menschen suchten nach ihren Angehörigen. Andere wateten stromaufwärts durch schlammiges Wasser, um Tote und Verletzte zu bergen. Augenzeugen zufolge hatten die Rettungskräfte Schwierigkeiten, die engen Gassen vor der Moschee zu erreichen. Über die Lautsprecher der Moscheen wurden die Menschen aufgerufen, beim Transport der Toten und Verletzten zu helfen und Blut zu spenden.

Bisher hat sich noch niemand zu den Granatenangriffen auf die Pilger bekannt. Aber es ist bekannt, dass sunnitische militante Islamisten immer wieder Anschläge auf Schiiten verüben. Letztes Jahr hatte die US-Besatzungsverwaltung ein angebliches Strategiepapier von al-Qaida für den Irak veröffentlicht. Darin hieß es, die Gruppe plane einen Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten.

Zweifelsohne haben die toten Pilger von gestern das Land dem Bürgerkrieg einen Schritt näher gebracht. Die Spannungen waren bereits durch einen am Sonntag dem Parlament vorgelegten Verfassungsentwurf gestiegen, den viele Sunniten ablehnen. Mehrere schiitische Politiker machten gestern sunnitische Aufständische für die Massenpanik verantwortlich. Ammar al-Hakim vom „Obersten Rat für die Islamische Revolution im Irak“ sagte, „Terroristen, Saddamisten und radikale Extremisten“ hätten bewusst Gerüchte über einen bevorstehenden Selbstmordanschlag gestreut. Diese hatten die Panik ausgelöst. Ein Sprecher des radikalen Schiitenführers Moktada al-Sadr äußerte sich ähnlich.

Doch die Granatenangriffe auf Pilger wurden von Politikern aller Richtungen verurteilt. Der prominente sunnitische Politiker Adnan al-Dulaimi forderte im Fernsehsender al-Dschasira alle Iraker auf, zusammenzuarbeiten, um die Attentäter zu finden und einen Bürgerkrieg zu verhindern. Er machte auch die irakische Regierung dafür verantwortlich, die Wallfahrt der Pilger nicht angemessen organisiert zu haben. Augenzeugen zufolge wuchs die Panik, nachdem irakische Sicherheitskräfte in die Luft geschossen hatten, um die Menschenmassen auf der anderen Seite der Brücke zum Anhalten zu zwingen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen