Katastrophen-Kunst in Hamburg: Bilder wie Marvel-Filme
Wie sich ein neues Bildthema durchsetzte: die Ausstellung „Entfesselte Natur. Das Bild der Katastrophe seit 1600“ in der Hamburger Kunsthalle.
Von Dingen handeln viele Ausstellungen. Davon, wie die Menschen diese Dinge sehen und gesehen haben, handeln alle – mal mehr, mal weniger ausdrücklich. Wenn sich die Hamburger Kunsthalle, als zweiten großen Sommerprogrammpunkt in diesem Jahr – neben der Überwachungsfotoschau „[Control] No Control – nun „das Bild der Katastrophe seit 1600“ vorgenommen hat, liegt der Gedanke nahe: Klar. Denn was – wenn keine „Bilder von …“ – will man denn sonst zeigen?
„Ohne Bilder keine Katastrophen“, sagte Christoph Martin Vogtherr, seit Oktober vergangenen Jahres Direktor am Hamburger Glockengießerwall, zur Ausstellungseröffnung – zumindest keine Katastrophen in der kollektiven Wahrnehmung. „Tatsächlich entstehen Bilder nicht als Folge von Katastrophen, sondern sie konstituieren sie“, schreibt er im Ausstellungskatalog. „Auch heute beobachten wir, dass manche Ereignisse mit verheerenden Auswirkungen nicht als Katastrophen wahrgenommen werden, wenn sie nicht zu Bildern gerinnen können.“
Ereignis und Vermittlung
Dieses Zusammenspiel von Ereignis und Vermittlung, das Verhältnis von Abgebildetem und im Abbild überhaupt erst Hergestelltem interessiert die beiden Ausstellungsmacher: Markus Bertsch, in der Hamburger Kunsthalle verantwortlich für Malerei, Skulptur des 19. Jahrhunderts, und Jörg Trempler, Kunsthistoriker an der Universität Passau – und Autor unter anderem des Buches „Katastrophen. Ihre Entstehung aus dem Bild“ (Wagenbach 2013).
Am Anfang habe Begeisterung gestanden, schreiben die beiden Kuratoren: für Katastrophenbilder. Hamburg eignet sich demnach besonders gut dafür, einerseits, weil die Stadt mit dem Brand im Mai 1842 selbst Schauplatz so einer „entfesselten Natur“ war, der nun auch ein Raum gewidmet ist. Aber mehr noch, weil der dortigen Kunsthalle die Zeit um 1800 immer schon wichtig war, und da veränderte sich den Kuratoren nach der künstlerische Blick auf die Katastrophe. Zwar habe sich das „neue Bildthema“ schon im 16. Jahrhundert formiert, schreibt Trempler, aber: „Erst um 1800 werden Motive wie Vulkanausbrüche, Schiffbrüche sowie Feuersbrünste zu einem zentralen Thema im Kunstdiskurs und finden Eingang in die großen Salons ihrer Zeit.“
Mehr als bloßes Spektakel
Das Spektakel, das die ersten „Entfesselte Natur“-Rezensionen prominent oder sogar einzig herausstreichen, ist so nur eine, die oberflächlichste Schicht dieser sommerlichen Schau: Ja, es sind ein paar echt spektakuläre Exponate zu sehen. Wie etwa John Martin 1822ff. „Die Zerstörung von Herculaneum und Pompeji“ in Szene gesetzt hat: Es muss den Zeitgenossen gegeben haben, was wir uns heute vom jeweils frischesten Marvel-Popcorn-Blockbuster erwarten. Und tatsächlich waren auch Martins auf Tournee geschickte Bilder damals beim Publikum um einiges erfolgreicher als bei der (Kunst-)Kritik. Das Bild wurde bald, schon 1928, bei einer Themseflut beschädigt, galt lange als unrettbar und kann erst seit der Restauration im Jahr 2011 wieder gezeigt werden; dass solche Perlen nun in der Kunsthalle hängen, ist eine Stärke dieser gelungenen Ausstellung.
Im Fall von Théodore Géricaults „Floß der Medusa“ ist sogar noch aus der Abwesenheit des Spektakulären etwas gemacht worden: Das Gemälde aus dem Jahr 1819, gern als Schlüsselwerk der Moderne begriffen, passt mit seinen knapp fünf mal gut sieben Metern nicht in die Hamburger Räumlichkeiten. Nun sehen die Besucher stattdessen Studien Géricaults, gezeichnete Details der späteren Komposition. Und daneben mehrere „Bearbeitungen“, die belegen, wie sehr das gut 100 Jahre alte Bild immer noch inspirieren kann.
Nachgestellt und abgemalt
„Entfesselte Natur“ läuft bis zum 14. Oktober in der Hamburger Kunsthalle. Ein begleitendes Filmprogramm zeigt bis Ende August das Metropolis Kino.
Für „Neue Malerei – Géricault“ nahm Christian Jankowski ein heutiges Tableau vivant zur Grundlage: Das Foto einer französischen Schulklasse, die im Klassenzimmer jene von Géricault in Szene gesetzte Havarie nachstellte, ließ Jankowski dann von chinesischen Malerei-Dienstleistern nachmalen – im Format des Originalgemäldes. Dieses Riesenformat zeigt man nun anstelle des weiter im Louvre hängenden Géricault, allerdings gekippt – wegen der fehlenden Raumhöhe. Und von Thomas Struht hängt im selben Raum „Louvre 4, Paris 1989“: Ein Foto des Géricault an der Museumswand, davor einige Betrachter, die uns den Rücken zuwenden – eine Reflexion über die Rezeption von Kunst, darüber, wie auch der Betrachter Teil dessen wird.
Ein Schlüsseldatum, an dem sich die These vom Durchbruch des Katastrophischen als Motiv gut durchdeklinieren lässt, stiftet der 1. November 1755, das Erdbeben von Lissabon. Zwei Jahre später legte Jacques-Philippe Lebas seine sechs nun gezeigten Kupferstiche vor, die „Sammlung der schönsten Ruinen von Lissabon, verursacht durch das Erdbeben und das Feuer“. Stilistisch angelehnt waren die an den zeitgleich sehr erfolgreichen Piranesi – bloß dass der eben antike Steinhaufen festhielt. Erstmals also wurden da, so Trempler, „zeitgenössische Zerstörungen elementarer Gewalt – wenn zunächst auch nur bildlich – mit über 2.000 Jahre alten Ruinen verglichen“, um nicht zu sagen: „das Erdbeben von Lissabon mit dem Untergang von Rom oder der vergangenen Antike“ gleichgesetzt. In der Tat sorgten Erdbeben und anschließendes Feuer neben rund 60.000 Todesopfern auch für eine erhebliche Erschütterung im europäischen Geistesleben – ob es aber auch eine Zeitenwende war, wie das Ende der Antike und der Beginn des (christlichen) Mittelalters, für das Piranesis Ruinen standen?
An Lebas’ Stichen, die damals beträchtliche Popularität erlangten, lässt sich aber noch etwas weiteres Wichtiges festmachen: Über den Ruinen zeigt er Gebäude, die weder 1755 existiert hatten noch zwei Jahre später, zur Entstehung der Serie, da standen: eine Vision der Zukunft. Hier setzt ein anderer wichtiger inhaltlicher Punkt der Ausstellung an: Mitnichten bezeichnete der immer schon als „Katastrophe“, was wir heute so nennen. Da wurde vielmehr ein Begriff aus der antiken Dramentheorie entlehnt: der Moment, in dem die Handlung des Stückes umschlägt – selten zum Guten.
Inferno mit Logenblick
Was gelesen werden kann als rationalere Lesart dessen, was lange als Ausdruck von Gottes Zorn galt. Und in einem anderen nun in Hamburg zu sehenden Bild auf eigene Weise seinen Niederschlag findet: Auf Hubert Roberts „Brand von Rom“ (um 1770) gibt es eine Reihe Zuschauer auf einem Gebäude; das Inferno, von der Loge aus gesehen.
Interessant: Zu erfahren war bei der Pressevorbesichtigung auch, dass die Sponsorensuche schwierig gewesen sei. Hängt aber draußen am grauen Würfel, den die Galerie der Gegenwart darstellt, dieser jüngste Teil des Kunsthallenkomplexes, nicht gern mal ein großer Versicherer seinen Schriftzug auf? Tut er – aber mit entfesselter Natur, da versteht diese Branche vielleicht keinen Spaß. Oder doch? Ihr Logo untergebracht hat am Ende, ausgerechnet, die Hamburger Feuerkasse.
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