: Rosinen im Fleischwolf
Die Türkei erhebt massive Steuern auf Alkohol. Der Preis für Rakı hat sich vervierfacht. Systemkritische Alkoholfans machen ihren Schnaps einfach selbst
Von Müjde Yazıcı
Alkohol ist teuer geworden in der Türkei. 2009 kostete eine Dreiviertelliterflasche Rakı im Durchschnitt 22 Lira, heute kostet eine Flasche rund 94 Lira. Umgerechnet ist das ein Preisanstieg von 4 auf 17 Euro. Das lässt sich nicht allein durch die Inflation der vergangenen Jahre erklären. Es sind die Steuererhöhungen der letzten elf Jahre, die die Preise auf mehr als das Vierfache steigen ließen. Die jüngste Steuererhöhung gab es just in dieser Woche.
„Bei einer Flasche Rakı, die in lizenzierten Verkaufsstellen für 98 Lira verkauft wird, werden 70 Prozent Steuern erhoben. Und bei einem Bier, das Sie für 8 Lira kaufen, beläuft sich die Steuer auf 60 Prozent“, sagt der Journalist Ismail Şahin. Er geht dem Thema seit Jahren nach. „Das sind aberwitzige Zahlen.“ Şahin erzählt, dass seit den letzten Steuererhöhungen Menschen an den Wochenenden nach Zypern fahren würden, um illegal Alkohol in die Türkei einführen. Importe dieser Art, zunächst nur für den Eigenbedarf, hätten sich regelrecht zu einem eigenen Sektor entwickelt. So würden Schmuggler regelmäßig Mastika, einem dem Rakı ähnlichen Anisschnaps, illegal aus Bulgarien in die Türkei importieren.
Die Tücken der Eigenproduktion
Andere stellen ihren Rakı gleich selbst her. Warum sollte man im Laden 143 türkische Lira (umgerechnet 26 Euro) für einen Liter Rakı ausgeben, wenn man ihn für 7 Lira (umgerechnet 1,40 Euro) selbst herstellen kann? Alles, was man für die Eigenproduktion braucht: Alkohol, Zucker, Anis und Wasser. Supermärkte verkaufen Literflaschen mit „Ethanol für den Hausgebrauch“ für 48 Lira, bei Großhandelsapotheken und ähnlichen Einrichtungen kosten 5-Liter-Kanister 50 bis 60 Lira. Ekrem Berik, ein 68-jähriger Rentner aus der Tourismusbranche, produziert schon länger zu Hause seinen eigenen Rakı. „Alle meine Freunde und Bekannten stellen Rakı selbst her, weil Alkohol so teuer geworden ist. Außerdem kriegst du eine bessere Qualität, wenn du deinen Rakı selbst destillierst.“
Auch früher habe es schon Leute gegeben, die zu Hause alkoholische Getränke ansetzten. Nur Bier herzustellen war Beriks Ansicht nach noch nicht so weit verbreitet wie jetzt. Außerdem seien Wein und Bier in Eigenproduktion auch ungefährlich“, meint der Rentner. Bei der Herstellung von Rakı hingegen müsse man vorsichtig sein. „Das kann nicht jeder“, sagt er. Ihm liegt auch der gesundheitliche Aspekt am Herzen.
Am 31. März 2018 wurde die Verkaufsrichtlinie für Ethanol geändert. Dem Alkohol wurde ein Bitterstoff zugesetzt, daher ist es für die heimische Spirituosenherstellung nicht mehr zu gebrauchen. Das bisher handelsübliche in Supermärkten oder Apotheken erhältliche Ethanol, mit dem sich ohne Bedenken auch zu Hause Alkohol herstellen ließ, ist nicht mehr einfach so im Laden erhältlich.
Die Steuereinnahmen, die dem Staat in der „realen“ Wirtschaft verloren gehen, hole er sich indirekt über hohe Steuern auf Zigaretten, Alkohol und Sprit, meint Berik. Als man noch unkompliziert an Ethanol kam, sanken die Verkaufszahlen von Rakı. Die Privatwirtschaft erlitt dadurch einen ernsthaften Schaden. Deshalb wurde das im Handel frei verfügbare Ethanol mit einem bitteren Zusatzstoff versehen, so die Theorie des Rentners.
Die Menschen verwenden nun stattdessen billigeres Methanol für die Eigenproduktion. Das allerdings kann tödliche Folgen haben: Der Verzehr selbst geringer Mengen von Spirituosen auf Methanolbasis führt bestenfalls zur Erblindung, meist aber zum Tod. Ekrem Berik sagt: „Wenn unter der Treppe produziert wird, sind Todesfälle vorprogrammiert. Um die zu vermeiden, sollte Ethanol wieder frei verkäuflich sein.“
Der Journalist Şahin beobachtet, dass die jüngste Verkaufsregulierung von Ethanol die Menschen dazu bringe, andere Lösungen zu suchen: „Rakı ist inzwischen fast so teuer wie importierter Whisky. Nachdem Ethanol nicht mehr zur Heimproduktion taugt, keltern die Leute Weintrauben und machen Rakı mit dem Destillierapparat“, sagt er. „Man kann auch Rakı herstellen, indem man Rosinen durch den Fleischwolf dreht, in Zucker ziehen lässt und Anis zusetzt.“ Wege, um zum eigenen Rakı zu kommen, gibt es immer.
Wenn aus der Not eine Tugend wird
Die Provinz Tekirdağ an der türkisch-bulgarischen Grenze ist berühmt für ihren Rakı. Hier destillieren Menschen seit Jahrzehnten ihren eigenen Rakı. In den vergangenen Jahren wurde aus dieser regionalen Spezialität, zu Hause alkoholische Getränke herzustellen, ein landesweiter Trend. Der ökonomische Faktor geriet in den Hintergrund. Mittlerweile produzieren Personen jeden Alters und aus allen gesellschaftlichen Schichten, vom Hipster bis zum Rentner, ihre Alkoholika selbst. Dabei betrifft der Trend nicht nur Rakı, die wohl beliebteste Spirituose in der Türkei. Auch Bier und Wein stellen die Menschen selbst her.
So auch der Filmemacher Emre Akay, der seit einem Jahr zu Hause sein eigenes Bier braut. Als leidenschaftlicher Koch war es nur noch ein Gedankensprung bis zum selbst gebrauten Bier. „Ich wollte es einfach einmal ausprobieren“, erzählt er. Die Steuererhöhungen spielten dabei keine geringe Rolle. Doch mit der Zeit wurde für Akay aus dem heimischen Bierbrauen, das als Gelegenheitsbeschäftigung begann, ein leidenschaftliches, fast professionelles Hobby. Inzwischen klebt er sein eigenes Logo auf die Flaschen: „Das macht am meisten Spaß. Wahrscheinlich, weil eine Bierflasche ohne Etikett komisch aussieht.“
Wer hätte nicht gern Weingärten in Tekirdağ?
So geht es vielen Menschen. Am Anfang wollen alle nur den Preis für den eigenen Alkoholkonsum minimieren. Daraus wird eine regelmäßige Freizeitbeschäftigung, aus der wiederum für einige eine Leidenschaft wird. Es gibt Leute, die damit anfingen, zu Hause Wein herzustellen, und sich später Weingärten in Tekirdağ zugelegt haben.
Hakan Balkan, ein 33-jähriger Fotograf, begann vor fünf Jahren, zu Hause seinen eigenen Wein zu keltern. „Um in der Türkei guten Wein zu bekommen, musst du 40 bis 50 Lira ausgeben. Wenn ich aber gute Weintrauben auftreiben kann, zahle ich nur 5 Lira“, sagt er. Balkan hat keine Ambitionen, sich Weingärten anzuschaffen, für ihn sei das Ganze nur ein Hobby. Doch er sagt: „Ich habe nie besseren Wein getrunken als den selbst gemachten.“
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
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