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Die WahrheitGeheimnisse eines Operngigolos

Wie man Kultur schnorrend genießt. Rapport einer uralten, aber noch weitgehend unbekannten Kulturbetriebstechnik.

Illustration: Rattelschneck

Seit alters her stellen sich dem Kulturkonsumenten zwei Fragen: Läuft heute Abend was? Und: Haben wir Gästeliste?

Noch wichtiger als die regelmäßig Konsumption kultureller Leistungen und Güter (Kulturgüter) ist es nämlich, diese kostenlos zu beziehen. Für viele Menschen ist vollständiger Kunstgenuss tatsächlich nur möglich, wenn er gratis stattfindet. Natürlich nicht aus grobmotorischem Geiz! Sondern weil für diese besonders Empfindsamen schon der profane Akt der Zahlung die Reinheit des Erlebens tangiert.

Der Kulturschnorrer vollendet das Programm der idealistischen Ästhetik, in der das Werk unbeschadet von äußeren Zwängen als Idee seiner selbst ruht – und führt die Kunst, dadurch, dass er ihr die materielle Basis entzieht, überhaupt erst in einen Zustand der Selbstwirksamkeit, ja er wird zum Vollender der Transzendenz und der Askese anderer. Außerdem kickt es geil, sich irgendwo reinzuschmuggeln. Jawohl!

Für diese Art Abgreifertum haben sich im Laufe ungezählter Jahrhunderte vielfältige Verfahren entwickelt: Bei der Presse mitwurschteln („Journalismus“), sich mit Künstlern anfreunden („Alma-Mahler-Werfelismus“), zum Schein selbst Theaterleiter werden („Dercon-Strategie“). Eine der Öffentlichkeit bisher weitgehend unbekannte Form der Kulturschnorrerei ist aber der sogenannte Opernstrich.

Trotz seiner geringen Bekanntheit dürften die ökonomischen Ausmaße des Opernstrichs immens sein: Grob geschätzt findet in jedem zweiten Opernhaus bei jeder zweiten Aufführung mindestens eine solche Transaktion statt, bei Premieren noch deutlich häufiger. Bei zirka 1.100 Opernhäusern weltweit, knapp 50.000 Aufführungen im Jahr und einem durchschnittlichen Ticketpreis von 60 Euro geht es um Beträge, die auf keinen Taschenrechner mehr passen. Dies nur ein paar Zahlen.

Geschäftsanbahnung vor den Augen aller

Der Opernstrich, er findet vor den Augen aller statt, im Foyer, Zuschauerraum oder auf dem Opernvorplatz. Nur Eingeweihten fallen die spezifischen Bewegungsabläufe auf, die eine Geschäftsanbahnung vorbereiten; für den Laien scheinen normale Gespräche zwischen Musikfreunden stattzufinden.

Der Opernstrich basiert auf einem weltweit etablierten Phänomen und einem wohlgeordneten Markt: Ältere Damen, die Opernkarten haben (Opernwitwen – Angebot), stehen junge Männer gegenüber, die unbedingt Opernkarten haben wollen (und zwar umsonst – Nachfrage). Die Karten der Opernwitwen stammen meist aus einem Doppelabonnement des verstorbenen Gatten; die Armut der jungen Männer ist ihr eigenes Geheimnis.

Wer einmal einer betagten Dame kostenlos Karten abgeluchst hat, der hat Blut geleckt, der wird es wieder tun

Hat eine Opernwitwe Karten über, so ist es ihre Pflicht, sich im Foyer hinzustellen und dabei möglichst verwitwet auszusehen. Nervöses Auf-und-ab-Gehen, Fummeln in der Handtasche, suchende Blicke in den Zuschauerraum, all dies ist gestattet; gegen Aufführungsbeginn, wenn es dann schon pressiert, wagen manche auch ein scheues Nicken in Richtung Jungmänner.

Gespräche mit gleichaltrigen Damen müssen um jeden Preis vermieden werden, Lachen und Trinken ebenso – die Grundaussage ist: Hier ist eine Dame unverschuldet in Not geraten. Der junge Mann hingegen hat sich seinen Möglichkeiten entsprechend adrett aufzumachen, ebenfalls suchend auf- und abzuschreiten und verwitwet aussehende alte Damen scheu anzulächeln.

Uralter ritueller Singspruch

Lächelt eine Dame zurück, geht der junge Mann auf jene zu und sagt den aus uralten Zeiten überlieferten ri­tuel­len Singspruch: „Haben Sie Karten?“ Daraufhin nickt die ältere Dame behände, erzählt gegebenenfalls noch schnell eine Lügengeschichte von einer Freundin, die ursprünglich kommen wollte, und übergibt dem jungen Mann ihre Zweitkarte ohne viel Federlesens. Dann geht man auseinander, um erst im Zuschauerraum wieder aufeinanderzutreffen. Beide haben sich vorher noch nie gesehen.

Dieses System scheint erst mal recht wenig praktikabel; der Verfasser dieser Zeilen kann aber bestätigen, mit dieser Methode im Laufe seines Studiums mindestens vier Dutzend Veranstaltungen in Deutschland, der Schweiz und Frankreich beigewohnt zu haben; in den besten Häusern, auf teils atemberaubend guten Plätzen – und das alles vollkommen gratis. Sprachkenntnisse und kulturelle Unterschiede sind ausdrücklich kein Hindernis, es funktioniert einfach immer.

Wer jetzt glaubt, die alten Damen wollten dann aber dafür den ganzen Abend unterhalten, mit charmanten Bemerkungen bei Laune gehalten und in der Pause gar mit Leckereien verwöhnt werden, irrt. Für die allermeisten der betagteren Damen ist die Vorstellung mit einem jungen Menschen reden zu müssen, völlig zu recht mit absolutem Grauen verbunden; die Lebensumstände sind einfach zu unterschiedlich.

Man sitzt vielmehr schweigend nebeneinander und sichtet das Spektakel sturheil weg; auch in der Pause wird Konversation bewusst vermieden. Nach dem Ende der Vorstellung verabschiedet man sich höflich voneinander; es finden ausdrücklich keine weiteren Verbrüderungen oder anderweitige Vereinigungen statt. Das schiere Ausfüllen des Gattensessels, die züchtige Freude an etwas jugendlicher Körperwärme sowie die mikroskopisch dosierte Verruchtheit des Ganzen ist den Damen Befriedigung genug. Und die Jungen wollen halt Opern satt und umsonst.

Diese sanfteste, freundlichste und dem menschlichen Fortkommen wohlgefälligste Form der Prostitution, die dem Erdenrund bekannt ist, fand bisher weitgehend im Geheimen statt; wer jedoch einmal davon gehört oder gelesen hat, kann die entsprechenden Verhandlungen und Anbahnungen jeden Abend neu beobachten. Was hier an Theaterförderung gespart wird, was hier an Generationen-Reziprozität tagtäglich geübt wird, bedürfte dringend mehrerer Fleiß- und Verdienstorden, ja eines Shoutouts der Kanzlerin selber.

Zuvörderst adelt es jedoch den Stand des Kulturschnorrers auf gar nie gekannte Weise: Wer einmal einer betagten Dame kostenlos Karten abgeluchst hat, der hat Blut geleckt, der wird es immer wieder tun, solange es seine Jugendlichkeit hergibt – und wird vielleicht irgendwann selber luchsen lassen. Zu wünschen wäre, dass dereinst komplette Schulklassen in der alten Kunst der Opernprostitution unterrichtet werden, auf dass möglichst viele … – halt! Nein, so doch dann besser nicht.

Alte Damen wachsen schließlich nicht auf Bäumen.

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