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Niemand wollte sie aufnehmen

300.000 deutsche Juden emigrierten

Im Jahr 1933 lebten etwa 500.000 Juden in Deutschland. Die allermeisten von ihnen waren deutsche Staatsbürger, empfanden sich als Deutsche und sahen in ihrer Religion eine Privatsache. Nur eine kleine Minderheit unterstützte damals die Vorstellung einer Auswanderung nach Erez Israel (dem Lande Israel) im britischen Mandatsgebiet Palästina.

Der Boykott jüdischer Geschäfte und der Ausschluss von Juden aus vielen Berufssparten vom Richter bis zum Mediziner bewirkte bei vielen deutschen Juden ein Umdenken. Schon im ersten Jahr der NS-Herrschaft emigrierten rund 37.000 Menschen, 1934 waren es 23.000. Allerdings glaubten damals noch viele Deutsche – und nicht nur Juden –, die NS-Herrschaft werde schon bald in sich zusammenbrechen. Gar nicht vorstellbar war ihnen der Holocaust, wie er schließlich ab 1941 in Gang gesetzt wurde.

In den 1930er Jahren bestand das Ziel der antisemitischen Politik der Nazis noch darin, die Juden zur Emigration ins Ausland zu drängen. Dennoch mussten die Emigranten vor ihrer Auswanderung einen bürokratischen Hürdenlauf durchstehen – und sie verloren einen Großteil ihres Vermögens und ihres Haushalts. Diese Ausplünderung steigerte sich von Jahr zu Jahr. Besonders Arme und Ältere fanden keine Möglichkeit zur Emigration. Zudem wurde es immer schwieriger, überhaupt noch ein Auswanderungsziel zu finden, denn die klassischen Einwanderungsländer wie die USA bestanden auf einem Quotensystem und in Palästina kürzten die Briten die Zahl der ausgegebenen Einwanderungszertifikate drastisch.

Nach der Pogromnacht im November 1938, nach der etwa 30.000 Männer in Konzentrationslager eingeliefert wurden, um diese zur Auswanderung zu zwingen, setzte eine Fluchtwelle ein. In diesem Jahr verließen 40.000 Juden Deutschland, 1939 waren es gar 78.000. Angesichts der verschlossenen Grenzen mussten sich die Verfolgten für immer exotischere Ziele entscheiden, zum Beispiel für Schanghai. Damals stieg auch die Auswanderung nach Lateinamerika deutlich an. Rund 30.000 deutsche Juden erreichten wie die Katzenellenbogens Argentinien. Die wichtigsten Aufnahmeländer ab 1933 waren die USA mit rund 140.000 Einwanderern, gefolgt von Großbritannien und Palästina.

Mit dem Kriegsbeginn am 1. September 1939 schwanden die Chancen zur Auswanderung, denn Nazi-Deutschland war nun fast gänzlich von gegnerischen Staaten umgeben. Zudem fielen viele in europäische Staaten emigrierte Juden bald darauf den Nazis zum Opfer. 1941/42 entschied die NS-Spitze, alle europäischen Juden zu ermorden, zunächst in der Sowjetunion, bald darauf auch die deutschen Juden. Im Oktober 1941 verboten sie die Auswanderung von Juden aus dem Reich.

Etwa 300.000 Juden in Deutschland war bis dahin die Flucht gelungen. 165.000 wurden unter dem NS-Regime ermordet, wenige Tausend überlebten in Deutschland.

Klaus Hillenbrand

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