: An Schnürsenkeln erhängt
Schon vier Knastinsassen haben sich 2018 in Niedersachsen umgebracht. Zur Personalnot sieht das Justizministerium keinen Zusammenhang, erlässt aber einen neuen „Leitfaden“
Von Reimar Paul
In diesem Jahr haben bereits vier Häftlinge in vier niedersächsischen Gefängnissen Suizid begangen. Das bestätigte am Mittwoch das Justizministerium in Hannover. Ein weiterer Gefangener aus der Justizvollzugsanstalt (JVA) Rosdorf bei Göttingen liegt nach einem Selbstmordversuch mit Hirnverletzungen im Koma. In einem Fall aus 2017 ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen drei Gefängnisbedienstete wegen fahrlässiger Tötung.
Im vergangenen Jahr gab es insgesamt sieben Suizide in den Gefängnissen des Bundeslandes. Die Zahl der Suizidversuche vom 1. November 2017 bis heute gibt das Ministerium mit 16 an. „Jeder Suizid in einer niedersächsischen JVA ist einer zu viel“, sagt Ministeriumssprecher Christian Lauenstein dazu. Einen „dramatischen Anstieg“, wie die in Oldenburg erscheinende Nordwest-Zeitung schreibt, die zuerst über die Fälle berichtet hatte, gäben die Statistiken aber nicht her. Denn bereits 2009 hätten sich in Niedersachsen acht Gefangene getötet. Bis 2014 war die Zahl auf zwei Suizide gesunken, 2015 waren es sechs und 2016 sieben Tote. Suizidversuche werden erst seit 2012 erfasst: Hier lag der bisherige Höchstwert im Jahr 2015 bei 23 Selbstmordversuchen.
In mehreren Fällen aus diesem und dem vergangenen Jahr sollen sich Gefangene das Leben genommen haben, obwohl Gutachter zuvor keine Suizidabsicht erkannt hatten. In Oldenburg erhängte sich im Dezember 2017 ein Häftling sogar in seiner mit einer Kamera überwachten Zelle. Vetraulichen Unterlagen zufolge, die die Nordwest-Zeitung einsehen konnte, hatten sich Justizbedienstete erst nach 40 Minuten über den regungslosen Zustand des Mannes am Zellenfenster gewundert.
Ein Notarzt reanimierte den Gefangenen zwar zunächst, er starb aber am 8. Januar in einem Krankenhaus am erlittenen Hirnödem. Die Staatsanwaltschaft ermittelt hier gegen drei Beschäftigte wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung. „Im Übrigen ist es so, dass bei jedem Suizid die zuständige Staatsanwaltschaft ein Todesermittlungsverfahren einleitet“, sagt Ministeriumssprecher Lauenstein.
Auch im Gefängnis Bremervörde beging ein Häftling am 10. April Selbstmord, nachdem der psychologische Dienst eine Suizidabsicht verneint hatte. Der Flüchtling aus dem Irak wurde erst so spät in seiner Zelle entdeckt, dass bereits die Leichenstarre eingesetzt hatte. Der Gefangene hatte sich mit einem Schnürsenkel im Nassbereich an der Tür stranguliert. Der Iraker hinterließ sieben Kinder im Alter zwischen elf und 15 Jahren.
Eine verhängnisvolle Fehleinschätzung gab es offenbar auch in der Rosdorfer JVA, als der psychologische Dienst dort wenige Tage vor einem Suizidversuch einem Gefangenen keine akute Suizidgefahr attestierte. Nach der Selbststrangulierung liegt der Häftling in der Göttinger Uniklinik im Koma. In Lingen strangulierte sich ein 28-Jähriger trotz positiver Bewertungen einer Psychologin mit zwei Schnürsenkeln an einem Heizungsrohr. Dort fand man den Gefangenen erst drei Stunden später, als ein Bediensteter dem Häftling zufällig ein Asthmaspray bringen wollte.
Der Verband der Niedersächsischen Strafvollzugsbediensteten (VNSB) klagt seit Langem über fehlendes Personal im Strafvollzug. Auch das Justizministerium räumt einen Personalmangel ein. Nach offiziellen Zahlen müssten 3.649 Bedienstete in Vollzeit eingesetzt sein, tatsächlich arbeiten aber nur 3.447 Männer und Frauen in den Haftanstalten. Das bedeutet ein Minus von 5,8 Prozent zum gültigen Stellenplan.
Gleichwohl bestätigt das Ministerium nicht, dass die hohe Zahl der Suizide und Suizidversuche mit der schlechten Personalsituation in den Vollzugsanstalten zusammenhängen könnte:. „Dass wir nicht mit voller Personalstärke arbeiten, ist allgemein bekannt“, sagt Sprecher Lauenstein. „Ob aber tatsächlich mehr Personal dazu führt, dass weniger Gefangene sich umbringen, ist reine Spekulation.“
Justizministerin Barbara Havliza (CDU) habe bereits mit einem „Leitfaden“ auf die Todesfälle und Suizidversuche reagiert. Damit sollen mögliche Suizidneigungen im Eingangsgespräch besser abgeklärt werden. Der Leitfaden müsse noch mit den Justizvollzugseinrichtungen abgestimmt werden, sagte Lauenstein.
Bei der Aus- und Fortbildung der Bediensteten stehe die Suizidprävention schon länger auf dem Stundenplan. In elf der 15 niedersächsischen Justizvollzugseinrichtungen sind insgesamt 190 Telefone mit einer direkten Durchwahl zur Gefängnisseelsorge installiert. Damit haben die Gefangenen die Möglichkeit, auch nachts zwischen 21 und neun Uhr mit einer Seelsorgerin oder einem Seelsorger zu sprechen, wenn die Seelsorge in den einzelnen Gefängnissen nicht besetzt ist.
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