Dirigent Yoel Gamzou über die Oper für alle: „Ich bin ein absoluter Anarchist“
Yoel Gamzou ist Generalmusikdirektor des Bremer Theaters – aber statt als Orchesterdiktator bekämpft er Opern-Ängste lieber als aufsuchender Kulturarbeiter.
taz: …und Sie mögen also Kritiker, Herr Gamzou?!
Yoel Gamzou: Klar. Es gibt sogar ein hebräisches Verb, das sich von meinem Familiennamen ableitet und „scharf rezensieren“ bedeutet.
… von Ihrem Namen?
Ja, von meinem Großvater. Der lebte lange in Frankreich, und als er in den 1940er-Jahren nach Israel kam, gab es dort fast kein Bühnenleben. Trotzdem besprach er die Produktionen nicht mit dem Maßstab von Tel Aviv – sondern mit dem von Paris.
Wie hart!
Ja, aber immer sachlich. Das stachelt viel mehr an, als wenn man versucht, es allen recht zu machen. Was heute fehlt, ist, dass sich die Leute selbst starke Meinungen zutrauen. Gerade bei Musik. Da gehen viele hin und sagen: Das kann ich nicht beurteilen, das traue ich mir nicht zu. Ich sage dann: Doch! Du kannst sagen, ob es dir gefallen hat – und darum geht’s.
… und nicht so sehr um Wissen?
Yoel Gamzou, Operndirigent
Es geht gar nicht um Wissen. Sie müssen doch nicht wissen, welche Technik ein Maler benutzt hat, damit das Bild Sie anspricht.
Na ja, aber Sie wissen doch auch was über Musik, oder?
Aber das macht mir das Leben fast schwieriger: Ich kann fast nicht ohne das Fachliche Musik als Erlebnis wahrnehmen. Ich höre die Details, wie ein Koch, der schmeckt, was an dem Rezept nicht stimmt. Dabei sind die Stücke komponiert für Menschen, die nichts davon verstehen. Für die mache ich Musik.
1988 in Tel Aviv geboren, ist Generalmusikdirektor des Theater Bremens. Um Dirigent zu werden, verließ er mit 15 Jahren seine Eltern, ging nach New York und später nach Mailand. 2006 gründete Gamzou in London das International Mahler Orchestra, mit dem er seine eigene Ausarbeitung von Gustav Mahlers Zehnter Symphonie einspielte: Die Aufnahme erhielt 2017 den Echo Klassik. Von 2012 bis 2015 war er Erster Kapellmeister in Kassel.
Wie haben Sie gemerkt, dass Sie Dirigent werden wollen?
Das ging bei mir über den Stoff. Die Musik, die mich immer am meisten interessiert hat, war symphonische Musik, vor allem von Gustav Mahler. Zu der hatte ich relativ früh schon eine sehr starke Verbindung.
Was heißt relativ früh?
Ich war sieben, als ich erstmals mit Mahler in Begegnung kam.
… und sahen Sie sich im Geist am Pult vorm Orchester?
Nein, gar nicht. Ich hatte eine sehr genaue Vorstellung davon, wie ich diese Musik hören wollte, andererseits war mir immer schon klar, dass ich kein Instrumentalist werden würde. Wenn ich also diese Stücke musizieren wollte, ging das also nur übers Dirigat. Aber die Idee eines Dirigenten, also vor einem Orchester zu stehen, im Mittelpunkt zu sein – das liegt mir eigentlich nicht.
Ein Kind, das sich in symphonische Partituren vertieft …?
Ja. Ich hatte als Kind keinerlei sozialen Kontakte. Meine Welt bestand aus: zu Hause sitzen und Noten angucken. Ich sah die Noten und hörte im Kopf, dass sich in diesen Noten, in dieser Musik eine unglaubliche Freiheit und Sinnlichkeit entfaltet, die deutlich im Widerspruch steht zu den Regeln und Verboten, die mir später in der akademischen Musikausbildung begegnet sind.
Klingt, als hätten Sie, obwohl selbst Dirigent, eher Schwierigkeiten mit Autoritäten?
Absolut! Ich bin ein absoluter Anarchist, von Grund auf. Die Idee eines Diktators, der etwas vorgibt, ist mir sehr fremd. Klar, wenn ich eine Vorstellung von einem Stück habe, möchte ich sie realisieren, und dafür braucht es eine Struktur. Die muss man bedienen können. Aber das geht nur, solange es um die Musik als gemeinsame Sache geht.
Dann ist es okay, wenn Instrumentalisten sagen: Ich möchte das Stück gern anders spielen?
Es ist eine Frage des Maßes: Wenn jeder in jeder Probe eine Meinung zu jeder Stelle hätte, wäre das nur Chaos. Dann bräuchten wir für jedes Stück 30 Proben und würden doch nicht fertig. Aber wenn die Musiker ihre Sicht einbringen, begrüße ich das. Sehr! Das sind ja keine Maschinen, sondern Menschen …
… in einer klaren Hierarchie?
Wenn Sie mich nach meinem Ideal fragen: Das wäre ein Orchester, in dem die Leute permanent rotieren und verschiedene Positionen einnehmen, damit alle das Gefühl von Verantwortung kennenlernen.
Allerdings bleibt so ein Symphoniekonzert auch fürs Publikum eher eine zwanghafte Veranstaltung. Wie gehen Sie damit um?
Gehen Sie in Symphoniekonzerte?
Wenn ich’s vermeiden kann: Nein.
Aber Sie mögen die Inhalte?
Sehr.
Hm. Also ich glaube, es hat zwei Ebenen: Einerseits haben Konzerte die Form mit Stillsitzen in schicker Kleidung, die sich seit 1850 nicht verändert hat. Andererseits ist aber auch zu fragen, was unsere Stoffe mit uns heute zu tun haben. Da kommen wir sehr schnell auf die Frage nach neuer Musik.
Wie lautet die denn?
Wir werden das Problem des Publikums nicht lösen, solange wir unsere Probleme mit neuer Musik nicht lösen: Seit über einem Jahrhundert haben wir eine völlig künstliche Trennung zwischen so genannter U- und E- Musik – dabei ist die vermeintliche Avantgarde oft unzugänglich und abgehoben. Eine zeitgenössische Musik muss aber alle Einflüsse ihrer Zeit aufnehmen und bearbeiten dürfen. Heutzutage reicht es ja schon, wenn ein Komponist etwas mit einer E-Gitarre in ein Werk einschreibt, damit die Hälfte des Orchesters mit den Augen rollt und das Publikum sich fragt, was hat das hier zu suchen? Von dieser elitären Arroganz müssen wir uns verabschieden, aber dringend. Denn für eine rein-museale Unternehmung wird sich auf die Dauer kein Mensch interessieren.
Trotzdem gibt’s in Bremens Oper auch kommende Spielzeit keine Uraufführung?
Das kommt. Ganz sicher. Mein Ziel ist, ab 2020 jede Spielzeit eine Uraufführung zu machen. Das finde ich dringend notwendig.
Ehrlich gesagt: Ich bin ja schon happy, dass Sie aus dem 19. Jahrhundert statt der x-ten Wagner-Oper …
Sie mögen Wagner nicht?
Nein.
Dann habe ich endlich einen Seelenverwandten! Ich dachte schon, ich bin der einzige hier: Ich kann nämlich mit Wagner auch nicht sehr viel anfangen, nicht nur musikalisch: Der ganze Ansatz ist mir sehr fremd und grenzt an Faschismus. Ich habe damit große Probleme, und nicht, weil ich Jude bin, sondern generell: Das ist alles, was ich nicht bin und nicht sein möchte – sozial, ästhetisch, psychologisch und politisch.
Stattdessen graben Sie Emmanuel Chabrier aus.
Ja, „L’Étoile“: Die Oper habe ich vor vier Jahren durch Zufall in Amsterdam kennengelernt, und das war eines der tollsten Opernerlebnisse meines Lebens. Die Musik ist wunderschön, wie Offenbach hoch zehn, nur besser! Ich liebe diesen filigranen, feinen Operetten-Stil, diese Leichtigkeit und Plastizität, die zugleich wichtige Inhalte und große Tiefe transportieren. Da die Agogik zu suchen, die richtige Schärfe, die Sinnlichkeit ergründen – das ist eine viel größere Herausforderung als eine Wagner-Oper.
Aber Sie suchen auch nach neuem Publikum?
Das ist mit das Wichtigste in der kommenden Spielzeit: Ich mache Jugendkonzerte und Kinderkonzerte und ich gehe einmal im Monat zu Menschen nach Hause, die noch nie im Theater waren.
Echt jetzt?
Ja. Jeder darf mich einmal im Monat haben, für zwei Stunden, unter der Bedingung, dass die in ihrem Freundeskreis Leute finden, die noch nie in der Oper waren, und sie alle einladen. Dann gehe ich hin und erzähle, wie so eine Produktion bei uns aussieht.
Viele haben vor Oper regelrecht Angst.
Aber das wird nicht besser, wenn wir den Leuten bloß sagen: braucht ihr nicht zu haben. Die Angst nimmt nur ab, wenn die Oper sozusagen persönlich zu ihnen kommt, wenn ich mich zu den Leuten aufs Sofa setze, und sie erleben, das ist ein Mensch, mit dem kann man reden, und der macht Oper. Wir haben deshalb auch ein Format geplant, das heißt: Oper im Koffer, wo wir ab November mit Kurzversionen von Opern in Krankenhäuser, Altenheime oder Stadtteilzentren gehen: Ein Klavier, drei Instrumente, fünf Sänger – dafür ist überall Platz.
Warum ist Bremen dafür die richtige Stadt?
Besseres Publikum als hier kann man sich gar nicht wünschen. Hier suchen die Leute nicht nach einer Oper, die so ist, wie sie schon immer war. Die suchen nicht nach netter bürgerlicher Unterhaltung. Die wollen herausgefordert werden, die wollen Auseinandersetzung. Das finde ich toll. Und das ist längst nicht in jeder Stadt möglich. Es fiele mir viel schwerer, in einer Stadt wie Mailand Theater zu machen…
Dabei haben Sie zu Mailand sogar eine Beziehung, wenn die Geschichten stimmen, die …
Ja, die stimmen. Nur ich rede inzwischen so ungern darüber. Seit zehn Jahren muss ich jedes Interview damit bestehen, zu bestätigen, was ich einmal unvorsichtigerweise erzählt habe: Stimmt es, dass du mit 15 im Bahnhof von Mailand campiert hast? Stimmt es, dass …? Ja, es ist alles wahr. Ich habe auch tatsächlich alle Giulinis im Telefonbuch von Mailand durchtelefoniert, um Carlo Maria Giulini zu kontaktieren, den ich sehr verehrt habe. Ich würde nur heute den Fokus lieber auf die Musik legen, statt ständig diese hollywoodartige Erzählung zu wiederholen. Sonst werde ich genau einer von den Musikern, die ich selbst so sehr hasse: Bei denen es nur darum geht, dass sie im Mittelpunkt stehen. Darum geht es mir nicht.
Klar, sorry. Es ist ein etwas schäbiger Impuls, danach zu fragen.
Wir leben in einer Zeit, in der jeder ein Markenzeichen haben soll: Man wird von PR-Agenturen regelrecht gecoacht, wenigstens lustige Klamotten zu tragen, um ein schräger Typ zu sein, der sich besser verkaufen lässt. Um Inhalte geht es dabei gar nicht. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr mir das zuwider ist. Mir geht es darum, dass ich mit meinen Inhalten willkommen bin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!