Olympische Jugendspiele in Buenos Aires: Die wollten nur Spiele
Den Zuschlag für Jugend-Olympia gab es für ein soziales Konzept. Davon ist nichts mehr zu erkennen. Nun will Argentinien das ganz große Spektakel.
2013 hatte das Bewerbungskomitee, angeführt vom damaligen Bürgermeister und jetzigen Staatspräsidenten Mauricio Macri und ebenjenem Gerardo Werthein, ein Budget von rund 231 Millionen US-Dollar präsentiert, 105 für die Durchführung und 126 Millionen für die Errichtung des olympischen Dorfs. Das Konzept setzte fast komplett auf die Nutzung vorhandener Sportstätten, insbesondere jener im Cenard, dem Nationalen Zentrum für Hochleistungssport, auf Anmietungen, so zum Beispiel des Stadions von River Plate, und auf temporäre Sportstätten. Das war ganz nach dem Geschmack des IOC.
Unglücklicherweise kamen die ehrgeizigen Argentinier auf ihr knappes Budget, indem sie annahmen, 2018 stünde der Wechselkurs von Dollar zu argentinischem Peso 1 zu 4,5. Tatsächlich lag der offizielle Kurs bereits am Tag der Entscheidung bei 5,4 Peso, der auf dem Schwarzmarkt bei 7,9. Der IOC-Bericht zu den Bewerbungen hatte Ende 2012 festgestellt, dass der angenommene Kurs angesichts der hohen Inflationsrate Argentiniens ein „Risiko“ darstelle. Heute gibt es für einen Dollar 20,7 Peso, kurzum: Die Jugendspiele sind ohne weiteres Zutun gut viermal so teuer wie prognostiziert.
Das allein wäre vermutlich nicht der Rede wert, gäbe es nicht längst ganz andere Zahlen. Die hat Ernesto Rodríguez III recherchiert. „Ursprünglich waren es rund 1,04 Milliarden Pesos, am heutigen Tag sind wir bei circa 11,5 Milliarden“, sagt der Sportjournalist aus Buenos Aires über die Entwicklung der Gesamtkosten.
Das Thema Transport
Alejandro Lifschitz, Kommunikationsdirektor des Organisationskomitees, erklärt, der operative Etat „beläuft sich auf etwa 210 Millionen US-Dollar, von denen 20 bis 25 Millionen vom IOC und aus unseren Lizenz- und Sponsorenverträgen gedeckt werden. Den Rest finanziert die Regierung der Stadt Buenos Aires.“ Auf Nachfrage erklärt er, die Errichtung des Olympischen Dorfs sei ein Projekt des Ministeriums für Stadtentwicklung von Buenos Aires und somit nicht Teil des Kostenplans. 2013 war der Plan ein anderer. „Wir nutzten jeden Peso, den wir haben, so effizient wie irgend möglich“, sagt Lifschitz auch.
Ein Ausflug zur Baustelle des olympischen Dorfs ist ein Ausflug in eine andere Welt. Aus dem zentralen Viertel Palermo kommend, sitzen wir gut anderthalb Stunden in diversen Bussen. Der IOC-Bericht 2012 hatte zum Thema Transport auch bemerkt, die Aussage, der zufolge alle wichtigen Entfernungen in 30 Minuten zurücklegbar seien, sei „recht optimistisch“ – offenbar wurde bei der Berechnung eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 65 bis 70 Stundenkilometer zugrunde gelegt.
Der Busfahrer hat von einem olympischen Dorf oder irgendwelchen Spielen noch nie etwas gehört, obwohl er diese Strecke tagein, tagaus fährt. Die wenigen Menschen, die hier am südwestlichen Zipfel von Buenos Aires mit uns aussteigen, sind jung, einige Mädchen haben Kinder auf dem Arm, die Gesichter lassen auf ihre Herkunft aus Paraguay oder Bolivien schließen. Sie biegen bald rechts ab, Richtung Villa 20.
Die Villa 20 ist eines der vielen illegal entstandenen Elendsviertel in diesem Teil der Stadt. Das Gros der bis zu fünfstöckigen prekären Behausungen ist nicht ans reguläre Wasser- und Stromnetz angeschlossen, verfügt nicht über Abflusskanäle und kennt keine städtische Müllentsorgung. Die Villa 20 ist von der Bushaltestelle aus zu sehen. Um genau zu sein: Es ist jener Teil mit dem klingenden Namen Papst Francisco. Die Villa 20 gehört zur Comuna 8, der ärmsten und größten der insgesamt 15 Gemeinden von Buenos Aires. Hier leben rund 200.000 Menschen. Nach verschiedenen Schätzungen leben 70 Prozent der Bewohner oder über 11.300 Familien der Comuna 8 in Elendsvierteln oder auf extrem beengtem Wohnraum.
Die Nachnutzung des olympischen Dorfs
Auch deshalb war das ursprüngliche Projekt zur weiteren Nutzung des olympischen Dorfs eine gute Idee: Es sah vor, ein Drittel der geplanten 1.200 Wohnungen direkt an Menschen aus den Villas zu vergeben, die auf dem normalen Wohnungsmarkt völlig chancenlos sind, kurzum: sie zu verschenken. Ein weiteres Drittel sollte an bedürftige Menschen mit Anrecht auf bestimmte Bankkonditionen vergeben werden und das letzte Drittel über günstige Kredite einer öffentlichen Bank. Alle Wohnungen sollten an Menschen aus der Comuna 8 gehen.
Wir biegen von der Bushaltestelle links ab und gelangen durch ein offenes Türchen in einem Gartenzaun auf das Baustellengelände und an die siebenstöckigen Gebäude des olympischen Dorfes. Ein Wachmann schläft in der Sonne auf einem Schreibtischstuhl. Die Häuser sind quasi fertig, es gibt bunte Platten an den grau-weißen Außenwänden, mal blau, mal grün, mal rot. Das sieht alles sehr nett aus.
Alejandro Lifschitz sagt, dass die Wohnungen größtenteils noch vor Beginn der Spiele verkauft werden sollen. Bis Mitte dieses Monats konnten sich Interessenten tatsächlich online registrieren. Auf der Website heißt es explizit, man ziele auf „Familien der Mittelklasse“. Nun wird für maximal 50 Prozent der Einheiten Bewohnern der Comuna 8 Priorität eingeräumt, jeweils 10 Prozent sollen an Polizisten und Dozenten gehen.
Der neue Olympiapark
Von den Bewohnern der Villas ist keine Rede mehr. Der Preis für die Wohnungen, die momentan weder über eine Küche noch über einen Gasanschluss verfügen, liegt deutlich über dem aktuellen Quadratmeterpreis in dieser Gegend. Nach den Recherchen von Ernesto Rodríguez III sind die Kosten für das Dorf um 73 Prozent gestiegen, weshalb man letztlich auf den Bau von 164 Wohnungen schlicht verzichtet hat. Rodriguez III erläutert auch, dass für einige Ausschreibungen „Angebote ausgewählt wurden, deren Kostenvoranschlag bis zu 20 Prozent über der ausgeschriebenen Höchstsumme“ lag. Den Zuschlag erhielten nicht selten Firmen, die zuvor die Wahlkampagne von Mauricio Macri unterstützt hatten. Der ist seit Ende 2015 Präsident Argentiniens, während in Buenos Aires seitdem sein neoliberaler Parteifreund Horacio Rodríguez Larreta regiert.
Dieser Mann ist auch dort im Spiel, wo es um den neuen Olympiapark geht. Der war im Gegensatz zum olympischen Dorf ursprünglich überhaupt nicht vorgesehen. Doch in der armen Comuna 8 entstehen nun auch fünf neue Hallen, zwei Hockeyfelder, die Leichtathletikanlage und das Schwimmstadion. Nur 4 der 32 Sportarten finden im Oktober an jenem Ort statt, der im Bewerbungskonzept 2013 vorgesehen war. Selbst Alejandro Lifschitz sagt: „Die Spiele, die hier in sieben Monaten stattfinden werden, und die Spiele, die anfänglich geplant waren, sind zwei völlig unterschiedliche Dinge, so als würde man Äpfel mit Birnen vergleichen.“ Die Ausgaben der Stadt seien unter anderem deshalb gestiegen, weil man „auf dem Weg entschieden habe, die Matrix zu verändern und Spiele zu veranstalten, die 100 Prozent Vermächtnis hinterlassen“. In Absprache und mit Zustimmung des IOC, wie Liftschitz hinzufügt. Die Frage, warum eine Stadt, in der knapp 20 Prozent der Bevölkerung als arm oder bedürftig gelten, plötzlich Millionen in Sportstätten investiert, drängt sich auf.
Ein enormes Immobilienprojekt
Und damit wären wir wieder beim Cenard, dem Nationalen Zentrum für Hochleistungssport. Es ist im Vergleich zum olympischen Dorf schon heute ein Ausflugsziel mit Historie: Die zentrale Sporthalle, Anfang der 1950er entstanden, trägt seit je den Namen von Carl Diem, einem deutschen Sportfunktionär und Organisator der Spiele 1936, und auf dem über elf Hektar großen Gelände versammeln sich Trainingsanlagen, Lehrinstitute, Internate, Sportmedizin und vieles mehr. Dabei liegt der Cenard nicht irgendwo weit außerhalb, sondern gleich am Rio de la Plata, mitten im wohlhabenden Viertel Nuñez im Norden von Buenos Aires.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Die Urbanisierung genau dieses Teils der Stadt ist eines der Lieblingsprojekte von Rodríguez Larreta. Das Gelände gehört der Stadt, und der Quadratmeter Wohnraum kostet hier mehr als viermal so viel wie in der Comuna 8. „Der Paradigmenwechsel zur Errichtung des Olympiaparks vollzog sich, als Larreta entschied, auf dem Gelände des Cenards Luxuswohnungen zu bauen“, sagt Ernesto Rodríguez III. Er ist überzeugt, dass die Jugendspiele nichts weiter sind als ein Vorwand für ein enormes Immobilienprojekt. Die Werthein-Gruppe, also die Firma des NOK-Präsidenten und argentinischen IOC-Mitglieds, war übrigens laut eigener Website in der Vergangenheit an Immobilienprojekten in Nuñez beteiligt.
Die Schließung des Cenard, die OK-Präsident Gerardo Werthein bereits im Herbst 2016 befürwortete, ist mittlerweile besiegelt. Einen Termin für den Auszug aus den historischen Stätten in den neuen Olympiapark im Süden der Stadt gibt es laut Alejandro Lifschitz nicht: „Das hängt auch nicht von den Organisatoren der Jugendspiele ab, das ist eine Entscheidung des Sportministeriums.“
Gerardo Werthein mag sich übrigens mit den Jugendspielen nicht zufriedengeben. Bereits im letzten Jahr erklärte er sie mehrfach zu einer Art Generalprobe für eine erneute Bewerbung von Buenos Aires für die Olympischen Sommerspiele 2032.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!