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Für den Leipziger Buchpreis nominiertOrte der Lebenden, Orte der Toten

Esther Kinskys Roman „Hain“ erzählt von einer Frau, die auf einer Italienreise den Verlust ihres Geliebten verarbeitet. Ein Treffen mit der Autorin.

Antworten finden im Dialog mit der Landschaft Foto: Imago/ Imagebroker

Ein geliebter Mensch stirbt. Diejenige, die er zurücklässt, ist nun eine Hinterbliebene. Was bleibt den Hinterbliebenen? „Vor dem Eintritt der Hinterbliebenschaft“, heißt es gleich zu Beginn in Esther Kinskys Roman „Hain“, „mag man ‚Tod‘ denken, aber noch nicht ‚Abwesenheit‘.“ Die Abwesenheit sei undenkbar, solange es noch eine Anwesenheit gebe. Doch für den Hinterbliebenen „bestimmt sich die Welt durch Abwesenheit“.

Auch die Icherzählerin in „Hain“ ist eine Hinterbliebene, ihr Partner ist gestorben, die Abwesenheit des geliebten Menschen treibt sie nach Italien, an jene Orte, die sie zusammen bereist haben, aber auch dorthin, wo sie als Kind mit ihrem Vater gewesen war. „Italienische Reisen“, wirbt der Verlag, wenn auch ein wenig „der anderen Art“. Es sind vor allem Friedhöfe, die die Icherzählerin aufsucht, Nekropolen, in denen die Etrusker ihre Toten mit Grabbeigaben verabschiedet haben, verlassene Landschaften, denen die Menschen abhandengekommen sind, weil sie weitergezogen sind, dorthin, wo mehr Einkommen und Leben ist. „Der Roman“, sagt Esther Kinsky, als wir uns treffen, „ist eine ganz konkrete Auseinandersetzung mit den Orten der Lebenden und den Orten der Toten. Wie sie sich zueinander verhalten und miteinander sprechen.“

Wie schon in ihrem vorangegangenen Roman „Am Fluss“ scheint es, als folgte einer existenziellen Zäsur ganz zwingend ein Neuanfang, bei dem selbst elementare Dinge neu gelernt werden müssen. In „Am Fluss“ war die Erzählerin, ohne dass der Leser wusste, was geschehen war, wochenlang zwischen East London und dem Marschland an den Ufern des River Lea unterwegs gewesen, um sich im Beschreiben der verschiedenen Farben der Ziegel und Brandmauern in einer neuen Sprache zu üben, die den Gegenständen tatsächlich gerecht wird und nicht bloß auf Begriffe zurückgreift, die wir für sie bereitgestellt haben. Auch in „Hain“ gehören Ende und Anfang zusammen: „Jeden Morgen war mir, als müsste ich alles neu lernen. Das Aufschrauben des Kaffeekochers, das Einfüllen des Kaffees und das Einschalten der Kochplatte, das Schneiden von Brot und das Anordnen von Dingen auf dem Tisch selbst für die kleinste Mahlzeit.“

Manchen geben Menschen in solchen Situationen Trost, die Icherzählerin in „Hain“ schlägt sich lieber durch unwirtliches Gelände, wie geschaffen dafür, alles, was sie sieht, neu zu benennen, die Farben der Steine, den Gesang der Vögel, das sich an jeder Weggabelung ändernde Licht. Eine Obsession, die ein neues poetisches Vokabular der Landschaft hervorbringt. „Das Rascheln der Palme, das Wispern der trockenen Schilf­stängel, die Vogelrufe, das alles war eine neue Sprache, die gelernt werden wollte.“

„Geländeroman“, mit diesem Untertitel ist das Buch versehen, durch das die Erzählerin wandert, erst in Olevano, einer Berggegend östlich von Rom, dann auf den Spuren der Italienreisen, zu denen sie der (ebenfalls verstorbene) Vater mitgenommen hat, schließlich bei Co­macchio im Po-Delta, einem „weiten Gelände auf schwankendem Boden“. Was aber ist das, ein Geländeroman? Wozu braucht es diesen Titel? Reicht nicht „Hain“, in dem schon alles steckt, der Totenhain, der heilige Ort der Griechen und Römer?

Treffen in Neukölln

Ich treffe Esther Kinky im Buchbund, der Buchhandlung in der Neuköllner Sanderstraße, die der Schriftstellerin und Übersetzerin, die gleich um die Ecke wohnt, ein zweites Zuhause ist. Gleich zu Beginn verrät sie, dass sie selbst es war, die den Begriff Geländeroman vorgeschlagen hat. „Ich finde das Genre Roman sehr schwierig, weil zu meinen Büchern immer gesagt wird, da passiert nichts, das ist ja eigentlich kein richtiger Roman.“ Mit dem Begriff Geländeroman, gibt Kinsky unumwunden zu, „will ich mir mein eigenes Genre schaffen“.

Über meine Bücher wird gesagt, da passiert nichts, das sind keine richtigen Romane

Und das ist ihr gelungen, völlig zu Recht ist „Hain“ für den Leipziger Buchpreis nominiert worden. Souverän und mit leichter Hand lässt Kinsky ihre mit schwerer Seelenlast bepackte Erzählerin sehend und wortschöpfend durch steiniges Geröll gehen oder entlang der künstlichen Wasserläufe, die sich in der Po-Ebene Richtung Meer ziehen, einer Landschaft gleich einer „ungeklärten Materialgrenze zwischen Wasser und Land“. Die Erzählerin durchstreift in „Hain“ das Delta, in dem alles „greiferisch wurzelt“, bereist auf ein Neues Rom, „ein Erwartungswort, das am Ort selbst dann schnell zu Anderslautendem zerfiel“, entdeckt in den Bergen an „unsonnigen Tagen“ ein „vibrierendes Grau, das keine Schatten zuließ, doch der Landschaft mehr Tiefe gab“. Allen Aufbrüchen in dieses Gelände ist die Suche gemein, herauszufinden, „was zu den Toten gehört und was zu den Lebenden“, wie es die Schriftstellerin beim Tee im Buchbund nennt.

Tatsächlich entwickelt „Hain“ einen Sog, den man als Leser vielleicht von Wanderungen kennt, auf denen man die Orientierung verloren hat, wo es hinter einem kein Zurück mehr gibt und vor einem nur die Hoffnung auf ein Zeichen, irgendeinen Hinweis, der einen wieder auf die Spur bringt. Ganz auf sich zurückgeworfen ist man in Momenten wie diesen, die großen Fragen stellen sich, Fragen, die die Icherzählerin in „Hain“ freilich mit ihrer Umgebung teilt. Was bleibt den Hinterbliebenen von den Toten? Was bleibt von der Landschaft, wenn sie nicht mehr gebraucht wird? Was bleibt vom Delta des großen Flusses Po, wenn es, wie unter Mussolini, trockengelegt und zu Ackerland wurde? „Die Trockenlegung des Landes hatte den Menschen im Delta das Rückgrat gebrochen“, erklärte der Besitzer einer Pension der Icherzählerin. „Hier lebten Wassermenschen, keine Landmenschen, hier sei man nicht für den Ackerbau geschaffen. Seit den Trockenlegungen breite sich Unglück über die Gegend.“

Gestörtes Gelände

Es geht Esther Kinsky, wie sie im Buchbund verrät, seit ihrem Roman „Sommerfrische“ um „gestörtes Gelände“, eine Landschaft jenseits der Idyllen, die sie auch bei der Arbeit an ihrem nächsten Roman in Schottland entdeckt hat. „Ich war schon einmal dort“, sagt sie, „aber erst jetzt fielen mir die Schieferhalden auf, die dort überall sind. Schiefer ist ein interessantes Gestein. Es ist komprimierter Torf. Mit Organismen, die ganz klein sind, aber noch keine Tiere.“ Erst danach hat Esther Kinsky erfahren, was es mit diesen Schieferhalden auf sich hatte. „Hier wurde der Schiefer abgebaut, aus dem sogar Kathedralen gebaut wurden. Gleichzeitig gab es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Art Tsunami an der Westküste. Dabei wurden die Schiefersteinbrüche total geflutet. Von einem Tag auf den andern war die Einkommensquelle der Schieferschürfer verloren.“

Nicht nur Menschen, auch Landschaften können zu Hinterbliebenen werden, das ist die Beschaffenheit des Kinsky’schen Geländes. Im Vergleich mit dem Material der Natur ist der Mensch klein. Vielleicht ist das der einzige Trost, den die Ich­erzählerin akzeptieren kann: „Ein Gelände, das in mir seine Spuren hinterließ, ohne dass von mir eine lesbare Spur blieb.“ Sie sieht, ohne gesehen zu werden. Unsichtbar ist sie damit und dem Toten vielleicht näher als den anderen Lebenden.

Doch die Icherzählerin in „Hain“ will wieder ins Leben zurück. Man spürt es als Leser, als sie im ersten von drei Teilen aufbricht und die steinige Berggegend von Olevano hinter sich lässt. Man spürt es auch, als sie in Ferrara nicht nur auf den Spuren des Dichters Giorgio Bassani wandelt, des literarischen Chronisten der Stadt, sondern in ihrer Kameratasche auch Negative mit Aufnahmen ihres verstorbenen Partners findet, aus anderer Zeit, an anderen Orten.

Und sie selbst spürt es auch, als sie sich auf das Gelände des Erinnerns an ihren Vater begibt. „Jahre nach dem Tod meines Vaters war es mir in den Salinen von Comacchio, mit täglichem Blick auf den Lastwagenstrom von und nach Ravenna mit einem Mal gewesen, als sollte ich eine Aufgabe erfüllen, etwas erledigen – Orte aufsuchen, Gelände begehen, mich an den dünnen Fadenspuren entlangtasten, die sich zwischen meinen Erinnerungen, Bildern, Orten, Namen spannten.“

„Inseln der Heimatlosigkeit“

Als sie dieses begriffen hat, kann sie aufbrechen, kann in den Zug steigen und zurückkehren. Im Zug, der sie über die Alpen nach Norden bringt, sitzt eine Frau, die ein „schweres westafrikanisches Französisch“ spricht. Aber nicht nur die Ich­erzählerin in „Hain“ ist berührt von Begegnungen wie diesen, sondern auch Esther Kinsky. „Inseln der Heimatlosigkeit“ nennt sie in unserem Gespräch im Buchbund die Bahnhöfe in Städten wie Ferrara oder Ravenna, wo sich die Flüchtlinge treffen. „Das Schicksal dieser Schwarzen hat mich sehr bewegt, und das stellt auch im Rahmen der Ich­erzählerin den eigenen Verlust in einen anderen Kontext. Das sind alles Menschen, von denen man weiß, dass sie potenziell ihren nächsten Menschen auf dem Boot verloren haben.“

Das Buch

Esther Kinsky: „Hain. Gelände­roman“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, 287 Seiten, 24 Euro

An der Grenze wird die Frau aus Westafrika, ohne ein Wort zu sagen, von der Grenzpolizei aus dem Zug geführt. Die Ich­erzählerin, wissend, dass sie zurückkehrt, weiß auch, dass es für diese Frau kein Happy End geben wird. „Kein Weg aus Italien für sie, und kein Weg nach Hause.“

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