Historiker über Rechtspopulismus: „Vielleicht ist das Schlimmste vorbei“
Der Historiker Ian Kershaw spricht über die Stärke westlicher Demokratien, Europa und Rechtspopulisten im Vergleich zu den Zeiten vor 1945.
taz am wochenende: Herr Kershaw, Sie haben gerade den zweiten Band Ihrer Geschichte Europas im 20. Jahrhundert beendet. Der erste heißt „Höllensturz“ und geht bis 1949. Erlebt Europa derzeit einen neuen Höllensturz?
Ian Kershaw: Nein. Ich glaube, wir haben sogar etwas Grund zum Optimismus. Natürlich bleiben die langfristigen Probleme, wie die Folgen von Globalisierung und die Massenmigration. Und wir haben Probleme mit Populismus, wenn man nach Polen und Ungarn schaut oder gar in die Türkei oder nach Russland. Aber die demokratischen Kräfte in Europa sind stark, mit der Wirtschaft geht es bergauf. Das ist ganz anders als in den 1920er und 1930er Jahren. Vielleicht ist das Schlimmste schon vorbei. Sollte sich der französische Präsident Emmanuel Macron durchsetzen und Deutschland mitmachen, dann könnte es frischen Wind für die Europäische Union geben.
Mit Blick auf die Erfolge der Rechtspopulisten wird derzeit über Parallelen zwischen der Entwicklung in der Weimarer Republik und der von heute debattiert. Ist das sinnvoll?
Ich denke, nein. Die Parallelen sind eher banal und helfen zum Verständnis wenig weiter. Ich sehe vor allem Unterschiede. Natürlich gibt es in Deutschland fast 13 Prozent für die AfD, und Teile dieser Wähler sind wahrscheinlich Antidemokraten. Aber viele sind auch Protestwähler. Die anderen Parteien sind viel solider als die der Weimarer Zeit. Damals gab es die Schwäche der bürgerlichen Mitte, die konservativen Parteien haben versagt. Es gab ein Vakuum. Die Wähler gingen erst zu Splitterparteien, und schließlich sammelten sie sich bei der NSDAP. Die Demokratie heute ist gefestigt und Deutschland ist – sehr wichtig – ein wirtschaftlich erfolgreiches Land.
Man kann die Entwicklung in Europa auch pessimistischer sehen: Europa kämpft noch immer mit den Folgen der Finanzkrise, die Europäische Union ist geschwächt, antidemokratische Haltungen gewinnen an Zustimmung, Nazibegriffe wie „Lügenpresse“ und „Volksverräter“ breiten sich aus, in Deutschland zerlegt sich die SPD, und die Regierungsbildung dauert …
Das stimmt alles. Aber es gibt keine Staats-, System- oder Kulturkrise. Die Demokratie ist in Westeuropa nicht umstritten, anders als damals.
Und in Osteuropa?
In Polen oder Ungarn ist die Ausgangslage anders. Beide kannten vor dem Zweiten Weltkrieg überwiegend nur autoritäre Systeme, dann wurden sie zuerst besetzt und hatten dann 40 Jahre lang Kommunismus. Erst 1990 errangen sie ihre nationale Unabhängigkeit. Es folgten schwierige Jahre. Die Blütezeit der Demokratie währte vielleicht zehn Jahre. Dann kamen Finanz- und vor allem Migrationskrise, die als Bedrohung der neu erkämpften nationalen Identität wahrgenommen wurden. Und die EU erwies sich nicht als Bollwerk gegen diese Bedrohungen. In diesen Staaten ist die Demokratie nicht so verwurzelt wie in Westeuropa oder den USA.
Geboren 1943 in Oldham, Lancashire, England. Der britische Historiker lehrte bis zu seiner Emeritierung an der University of Sheffield. Er ist Spezialist für deutsche Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Einem breiteren Publikum wurde er mit seiner zweibändigen Hitler-Biografie bekannt. Zuletzt erschien „Höllensturz. Europa 1914–1949“, Band 1 seiner Geschichte Europas im zwanzigsten Jahrhundert. Den zweiten Band (1950–2017) hat er auf Englisch gerade fertiggestellt. Er soll im Herbst auf Englisch und 2019 in deutscher Übersetzung erscheinen.
Auch in den USA sehen wir gerade, wie etwas ins Rutschen geraten kann. Präsident Donald Trump schießt ja systematisch demokratische Institutionen an – die unabhängige Justiz und die Medien zum Beispiel.
Trump ist ohne Zweifel eine Gefahr. Aber die demokratischen Institutionen verteidigen sich. Ich bezweifele, dass es in den USA zu einer Verfassungskrise kommt. Und selbst wenn, wäre es nicht klar, ob Trump oder seine Widersacher am Ende gewinnen würden. Hoffentlich bleibt er nur vier Jahre Präsident und wird danach nicht wiedergewählt.
Auch bei Ihnen in Großbritannien waren die Rechtspopulisten – die Ukip und ihr ehemaliger Frontmann Nigel Farage – erfolgreich. Sie haben ihr größtes Ziel durchgesetzt: den Brexit.
Ja, und das deprimiert mich zutiefst. Aber es ist auch eine Chance für die EU, notwendige Reformen in Angriff zu nehmen. Der Schock über den Brexit hat Europa ein bisschen aus seiner Selbstgefälligkeit gerissen. Die Mehrheit in Großbritannien war lange gegen den Austritt, das kam kurzfristig. Es führt eine direkte Linie vom Bankencrash 2008 über die Migrationskrise 2015 hin zum Brexit. Die Ukip – wie die Kampagne für den Brexit – konnte nur deswegen so stark werden. Sie kamen in dem Slogan „Take back control“ zusammen. Aber derzeit liegt die Ukip nur noch bei 0,8 Prozent, bei der Europawahl 2014 war sie noch Großbritanniens stärkste Partei.
Wie kam das?
Das Ziel der Ukip ist erreicht. Die Partei hat sich selbst erledigt. Viele Stimmen für die Ukip waren Konjunkturstimmen. Die Leute haben jetzt nicht ganz andere Vorstellungen, aber da diese Vorstellungen auch von anderen Parteien aufgenommen und zum Teil umgesetzt werden, wählen ehemalige Ukip-Anhänger zum Beispiel wieder konservativ.
Ist die Übernahme rechtspopulistischer Parolen eine gute Strategie?
Ich hasse das, aber es ist erfolgreich. Das kann man auch in den Niederlanden sehen. Und ich vermute, hier bei Ihnen wird das auch der Fall sein. Wenn die CSU, die zwar eine rechte, aber eine demokratische Partei ist, bei der Landtagswahl einen Teil der AfD-Stimmen zurückgewinnt, bleiben diese in den demokratischen Strukturen und sind harmloser.
Der Preis dafür ist, dass sich der gesamtgesellschaftliche Diskurs und die Politik im Sinne der Rechtspopulisten verschiebt.
Ein hoher Preis. Aber es ist besser, wenn diese Stimmen bei der CSU als bei der AfD sind, also innerhalb und nicht außerhalb eines demokratischen, pluralistischen Systems.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Herr Kershaw, man kann sich derzeit viele Sorgen um die Demokratie machen, Sie aber klingen optimistisch. Woher kommt das?
Ich sehe die Chance, dass bei all den Problemen das Interesse an der Demokratie neu mobilisiert wird. Ich kann die Ablehnung des wirtschaftlichen und politischen Establishments mitunter nachvollziehen. Die Krise der Demokratie hat in Großbritannien in den 70er und 80er Jahren begonnen. Denken Sie an Margaret Thatchers Durchsetzung neoliberaler Reformen. Es wäre insgesamt an der Zeit, die Demokratie näher an die Massen zu bringen und ihnen zu zeigen, dass es in ihrem Interesse ist, an der Demokratie teilzuhaben.
Und wie kann das gehen?
Ich habe natürlich auch kein Patentrezept, aber ich glaube, wir brauchen Politiker mit Mut, die bereit sind, auch einmal etwas Neues zu wagen. Ich setze, wie gesagt, viele Hoffnungen auf Macron, um die EU Schritt für Schritt zu reformieren. Man könnte, entsprechend dem Internationalen Währungsfonds, einen Eurofonds aufbauen. Oder einen Außenminister einsetzen. Europa muss seine Identität finden – vielleicht zum Teil über Dezentralisierung und mehr Demokratisierung an der Basis.
Derzeit sehen wir aber die Rückkehr zum Nationalen und eine EU, die sich noch nicht mal über die gerechte Verteilung von Geflüchteten einig werden kann.
Natürlich gibt es viele Anlässe, pessimistisch zu sein. Aber es gibt auch eine starke Verankerung von Strukturen und Gedanken der Europäischen Union. Die Migrationskrise bleibt ein großes Problem. Wir sind aber über die andere große Krise, die Finanzkrise, hinaus. Darauf kann man aufbauen. Aber ich möchte noch einmal auf die Frage davor zurückkommen. An Labour-Chef Jeremy Corbyn sieht man, dass man erfolgreich gegen Konservative und auch die populistische Rechte mobilisieren kann. Corbyn hat klargemacht, dass man den Neoliberalismus nicht hinnehmen muss, sondern etwas ändern kann.
Sehen Sie in der deutschen Politik jemanden, der bereit ist, Neues zu wagen?
Nein, leider nicht. Ich hatte große Hoffnungen auf Martin Schulz gesetzt, aber das hat leider nicht funktioniert. Die künftige Regierung hat dennoch jetzt eine Chance, das Soziale an der sozialen Markwirtschaft stärker zu betonen. Die Sozialdemokratie stirbt in fast allen Ländern. Sie braucht dringend neue Impulse. Vielleicht könnten sogar die Jusos, wie die jugendlichen Anhänger von Corbyn in Großbritannien, die Basis neu mobilisieren und etwas in Gang bringen.
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