: Sammelwut in Unikliniken
Blutproben von Neugeborenen wurden in Kliniken zum Teil über Jahrzehnte aufbewahrt – ohne dass die betroffenen Eltern davon erfuhren. Aus Datenschutzgründen ist diese Praxis jetzt untersagt. Doch einige Ärzte meinen, für sie gelte das nicht
VON KLAUS-PETER GÖRLITZER
Fast alle Eltern lassen das Blut ihres Babys auf Anzeichen für angeborene Erkrankungen testen. Über das Ergebnis der freiwilligen Untersuchung werden sie nur dann unaufgefordert informiert, wenn es auffällig ist. Die Wahrscheinlichkeit ist gering: Weniger als eines von tausend Kindern wird hierzulande mit einer schweren Stoffwechsel- oder Hormonstörung geboren.
Bei der Analyse wird die getrocknete Blutprobe nicht vollständig verbraucht, ein Rest verbleibt auf der Testkarte. Mitte 2003 machten DatenschützerInnen öffentlich, was im Zeitalter der Molekulargenetik brisant ist: Viele Labors bewahren Restblutproben, die sie durch das Neugeborenenscreening erhalten haben, einfach auf – ohne Wissen der Betroffenen.
Mit der Sammelei muss es nun eigentlich vorbei sein. Denn seit April gelten neue Richtlinien zur „Früherkennung von Krankheiten bei Kindern“. Und die sind eindeutig: Sie verlangen, dass Labors die Restblutproben spätestens nach drei Monaten „vernichten“ müssen. Beschlossen hat die neue Vorschrift, die im Bundesanzeiger veröffentlicht wurde, der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA). Das Gremium aus ÄrztInnen, Krankenkassen, Kliniken und PatientenvertreterInnen legt fest, welche Leistungen die gesetzliche Krankenversicherung unter welchen Voraussetzungen erstattet. Mit der Dreimonatsfrist werde „Datenschutzaspekten Vorrang eingeräumt“, schreibt G-BA-Vorsitzender Rainer Hess zur Begründung; darüber müssten Eltern ebenso schriftlich aufgeklärt werden wie über Zweck und Aussagekraft des Screenings.
Handlungsbedarf war spätestens im Juli 2003 öffentlich geworden. Seinerzeit alarmierte Friedrich von Zezschwitz, damals Hessens Datenschutzbeauftragter, den Landtag. Das Universitätsklinikum Gießen führe eine zentrale Datei, die Blutproben und Namen aller Menschen erfasse, die nach 1972 in Hessen geboren wurden. Anfang 2004 zogen Hamburger DatenschützerInnen nach, sie waren im Uniklinikum Eppendorf (UKE) fündig geworden: Auf „tausenden von Karten“, gesammelt seit 1992, lagerten Blutproben im UKE, die mit den Personalien von Kindern und Müttern verbunden seien; die Befunde seien elektronisch gespeichert.
Solche Blutprobensammlungen seien „besonders gefahrenträchtig“, sie könnten als „potenzielle Gendatenbank“ genutzt werden, warnte von Zezschwitz. Sein damaliger Hamburger Kollege Hans-Hermann Schrader verwies darauf, dass Unikliniken zunehmend den kommerziellen Wert menschlicher Körpersubstanzen entdeckten und diese auch für zahlungskräftige ForscherInnen und Firmen bereithielten.
Derartige Zweckentfremdungen sind bislang öffentlich nicht bekannt geworden. Fest steht indes: Zumindest am Hamburger UKE wurden in der Vergangenheit anonymisierte Neugeborenen-Blutproben an forschende KinderärztInnen im eigenen Haus weitergegeben. Details wollte der für das Screening verantwortliche Professor Alfried Kohlschütter auf Anfrage einer Mutter nicht verraten.
Das Auswerten von Testblut für Forschungsprojekte ohne Einwilligung der Eltern soll die seit April geltende Kinder-Richtlinie des G-BA ausschließen. Doch an die neue Pflicht zum Vernichten der Blutproben nach drei Monaten müssen sich diverse Screening-ÄrztInnen wohl erst gewöhnen.
Zum Beispiel Professorin Annette Grüters und Laborleiter Oliver Blankenstein vom Berliner Uniklinikum Charité. Anfang Juli teilten sie einer jungen Mutter auf Anfrage mit: „Hier in Berlin sehen wir das größere Problem nicht im eventuellen Missbrauch gelagerter Restblutproben, sondern in einem eventuell notwendigen Nachweis einer fehlerhaften Abnahme, Zuordnung oder Bestimmung im Labor.“ Was sie daraus folgern, widerspricht den neuen Regeln: „Wir halten es daher für richtig und wichtig, in Ihrem und unserem Interesse die Probe nicht wie vorgesehen frühzeitig zu vernichten. In Berlin haben wir uns auf eine Vernichtung zur Volljährigkeit Ihres Kindes, d. h. nach 18 Jahren, entschieden.“
Eine wissenschaftliche Nutzung der Trockenblutproben, schreiben die beiden Charité-ÄrztInnen, sei „zurzeit nicht beabsichtigt“. Dann geben sie noch einen Hinweis: „Falls Sie eine Aushändigung oder Vernichtung der Probe zum jetzigen Zeitpunkt wünschen, müssten Sie uns dies noch einmal ausdrücklich zur Kenntnis geben.“
Wie man uneinsichtige MedizinerInnen bewegen will, geltendes Recht zu befolgen, ist eine offene Frage; Kontrollen sind ebenso wenig vorgesehen wie Sanktionen bei Verstößen.
Nichts sagen die neuen Richtlinien zum Verbleib alter Proben, die vor April 2005 entnommen wurden. Auch fehlt eine öffentliche Übersicht, aus der man ersehen könnte, in welchen Kliniken und privaten Labors Restblutproben seit wann lagern. Dies zu klären, hat sich die FDP-Politikerin Gisela Piltz bemüht – vergeblich. Ihre Anfrage beschied Gesundheitsstaatssekretärin Marion Caspers-Merk (SPD) im September 2003 so: „Der Bundesregierung liegen keine Erkenntnisse darüber vor, wo etwaige Blutprobenreste bis zu ihrer Vernichtung aufbewahrt werden.“ Auskünfte darüber könnten nur die Bundesländer erteilen, deren Aufgabe es sei, die Einhaltung von Datenschutz und ärztlichem Berufsrecht zu überwachen.
In Hessen, wo die Blutproben-Sammelei zuerst aufgeflogen ist, hat sich nach der öffentlichen Intervention des Datenschutzbeauftragten etwas getan. Dort seien sämtliche Restblutproben, die vor 1996 entnommen wurden, in diesem Sommer vernichtet worden, versichert die Medizinerin Angela Wirtz aus dem Sozialministerium. Die zwischen 1996 und April 2005 angelegten Testkarten würden verschlüsselt aufbewahrt und erst zerstört, wenn die betroffenen Kinder zehn Jahre alt geworden sind. Auf dieses Vorgehen, das allerdings nicht dem Geist der neuen Kinder-Richtlinie folgt, hätten sich Ministerium, Gießener Screeningzentrum und DatenschützerInnen geeinigt. Ähnliches wurde Ende 2004 auch in Hamburg vereinbart. Im Uniklinikum der Hansestadt sollen pseudonymisierte Restblutproben maximal fünf Jahre lagern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen