Restaurantkritik-Serie Auf die Mütze (4): Ein Häuschen vervespern
Wie wird man Restaurantkritiker? Erst mal sollte man im Lotto gewinnen. Denn die bewusste Wahrnehmung bei der Nahrungsaufnahme ist Luxus.
Einen Reisebuch-Autor, den ich zu mir nach Hause zum Essen eingeladen hatte und den ich dafür bewunderte, wie sinnlich er auf seinen Reisen jede Szene in sich aufsaugt, um sie später detailliert in seinen Beschreibungen wiederzugeben, diesen Autor fragte ich am nächsten Morgen beim Frühstück, was ich am Abend davor gekocht hätte. Ich ahnte da schon, dass er es nicht wusste.
Nicht, weil es ein so kompliziertes Gericht gewesen wäre. Sondern weil ich ihn dabei beobachtet hatte, wie er, während er intensiv erzählte, seinen Teller leerte, ohne sonderlich darauf zu achten, was er da gerade zu sich nahm. Es war eine vier Stunden in Rotwein geschmorte Ochsenbacke.
Die bewusste sensorische Wahrnehmung bei der Nahrungsaufnahme ist ein Luxusthema. Sie funktioniert nämlich nur, wenn man sich nicht allzu hungrig an einen Tisch setzt. Ab einem gewissen Grad von Hunger schmeckt alles Essbare wunderbar. Oder anders: Nur ein satter Bauch kann genießen.
Doch jenseits dieser primären Bedürfnisbefriedigung gibt es auch in wohlhabenden Gesellschaften eine beachtliche große Zahl von Menschen, denen die Qualität bei der Zubereitung von Gerichten herzlich egal ist. Sie kennen, wie mein Onkel Walter, nur zwei Kategorien, wenn sie über einen Restaurantbesuch berichten: Es hat gut geschmeckt, und es gab große Portionen.
Vielen reicht, wenn es „wie immer“ schmeckt
Gut und viel – das reichte Onkel Walter sein Leben lang aus, um die Qualität einer Gaststätte zu bestimmen. „Viel“ konnte man physikalisch einigermaßen sicher messen, bei „gut“ war das schwieriger. „Gut“ war die Umschreibung dafür, dass nichts am Essen störend schmeckte, also nach einem besonderen Gewürz und schon gar nicht nach einem unbekannten Aroma. Am besten war es sogar, wenn es „wie immer“ schmeckte, also keinerlei Überraschungen zu erwarten waren.
Wo und wie die Lust an kulinarischen Erlebnissen beim Menschen entsteht, ob die Kindesliebe zur Großmutter und ihren duftenden Bratkartoffeln dafür zuständig ist oder ob die Genussfähigkeit nur eine Form der Substituierung von Sex ist („Essen ist der Sex des Alters“), konnte noch nicht abschließend geklärt werden. Wenn ich meine eigene Küchensozialisation zugrunde lege, hat es aber schon irgendwie mit Sex zu tun.
Als 16-Jähriger ging ich auf eine Waldorfschule und kannte Lehrerinnen vor allem als ältere grauhaarige Damen in langen Röcken. Bis eines Tages Frau Kersten als neue Englischlehrerin in unserer Klasse erschien. Circa 1,80 Meter groß, blond und in einem knallroten Minirock, wie er wohl bis dahin an einer Waldorfschule noch nicht gesehen ward.
Der Ehemann von Frau Kersten betrieb in unserer Stadt ein französisches Restaurant, in dem sie am Abend bediente. Mein ganzes Taschengeld brachte ich in den folgenden Monaten dorthin, immer in der Sehnsucht nach den langen Beinen von Frau Kersten. Nebenbei aß ich irgendetwas Französisches und bemerkte beiläufig, dass mir diese Art der Küche viel besser schmeckte als jene zu Hause. Frau Kersten hielt es nicht lange an der Waldorfschule aus. Aber die Lust am Essen ist mir geblieben.
So teuer wie ein Reihenhaus
Seit dieser Zeit habe ich ungefähr den Wert eines Reihenhauses (Berliner Stadtrandlage) in diversen Restaurants ausgegeben. So viel muss man ausgeben, um professionell mitreden zu können. Das hat Wolfram Siebeck gesagt, der 2016 verstorbene Grandseigneur der deutschen Restaurantkritik. Auf die Frage: „Wie wird man Restaurantkritiker?“ antwortete Siebeck: „Sie müssen als Erstes im Lotto gewinnen und dann den Wert eines Reihenhauses in sehr guten Restaurants ausgeben. Dann können Sie mitreden.“
Das klingt nicht nur ein wenig elitär, sondern ist es auch. Der Besuch eines Gourmet-Restaurants ist für Hartz-IV-Bezieher eher selten möglich. Der Hirschrücken mit französischer Blutwurst, Cranberries, Petersilienwurzel und Rotwein-Schalotten, den ich gestern aß, kostete immerhin 33 Euro, was für ein Spitzenrestaurant noch nicht einmal viel Geld ist. Im 3-Sterne-Restaurant „L’Hôtel de Ville“ am Genfer See verlangen sie für das Menü 325 Schweizer Franken, etwa 300 Euro. Ohne Getränke. Das Lokal war, zumindest als ich an einem Nachmittag unter der Woche dort aß, bis auf den letzten Platz gefüllt.
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Man ist daher schnell bei der Hand, diese Form der Nahrungsaufnahme als den abscheulichen Ausdruck von Dekadenz abzutun. Und tatsächlich lässt sich die Schere unserer Klassengesellschaft kaum besser ablesen als an den Gästen eines 3-Sterne-Lokals und denjenigen einer sozialen „Tafel“.
Aber daraus zu schließen, nur wer viel Geld für Essen ausgibt, verfüge auch über bessere Geschmackssensoren, der irrt gewaltig. Für einen Großteil der Gäste ist der Besuch eines Edelrestaurants lediglich Statusgehabe. Im Grunde würden sie sogar lieber eine Currywurst mit Pommes verdrücken als ein Hummersüppchen mit gebackenem Tartar vom Kobe-Rind. Aber sie müssen zu Schuhbeck, Wohlfahrt und Co., weil sie Eindruck bei ihren Ehefrauen oder Geschäftspartnern hinterlassen wollen.
Drei Gänge für 38 Euro als Schnäppchen
Diese Menschen können einem genauso leidtun wie jene, die gern besser essen würden, es sich aber nicht leisten können. Viele Restaurant-Führer haben deshalb in den vergangenen Jahren auch Lokale bewertet, die gute Leistungen zu bezahlbaren Preisen anbieten. Beim Michelin-Führer wurde dafür sogar ein eigenes Logo geschaffen, das BIB-Gourmand-Männchen. Die Bedingung: ein 3-Gänge-Menü darf nicht mehr als 38 Euro kosten.
Ein Koch, der bei der Auswahl der Produkte und bei der Zubereitung mit Sorgfalt zur Sache geht, wird daran nicht viel verdienen.
Wem das immer noch zu teuer ist und wer seinen Geschmackssinn noch nicht bei Lieferando und Co. abgegeben hat, der sei an dieser Stelle getröstet: Krosse Bratkartoffeln mit ordentlich zubereitetem Marktgemüse der Saison können ein Abendessen zu Hause zu einem kulinarischen Festakt werden lassen, bei dem man über die Ungerechtigkeit der Welt auch noch so laut fluchen darf, wie man will.
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