Mit dem Bus an die georgische Küste: No train to Batumi
Georgien ist für viele Russen ein Sehnsuchtsland, wo die Zitronen blühen. Eine Reise durch das Italien des Kaukasus.
Es ist 4.30 Uhr in der Nacht. Ankunft in Tiflis. Die Georgier werden von ihren Familien abgeholt oder fahren mit dem Taxi in die Stadt. Ich warte als Einziger auf den Bus. Das Ticket kostet 20 Cent, einen halben Lari. Der George W. Bush Boulevard führt in die Stadt. Der ehemalige US-Präsident winkt lächelnd von einem riesengroßen Plakat. Vor zwölf Jahren, als er hier zu Besuch war, haben sie ihm die Straße gewidmet. Ein Betrunkener steigt in den Bus und schläft sofort ein. In der Dunkelheit erkenne ich die Umrisse von Bergen und Hügeln. In der Innenstadt dann mehrspurige Boulevards, ein breiter Fluss, Bürotürme aus Glas und die Kreuzkuppeln der orthodoxen Kirchen.
Meine Reisetasche habe ich ins Hostel gebracht. Obgleich ich sehr müde bin, kann ich nicht schlafen. Ich mache mich auf den Weg, laufe durch die engen Gassen der Altstadt. Die kleinen Backsteinhäuser mit ihren bezaubernden Holzbalkonen sind terrassenförmig in den Hang gebaut. Oberhalb der Altstadt liegt die goldfarben beleuchtete Nariqala, eine Burgfestung, die Ende des 3. Jahrhunderts erbaut wurde, und unten, am Fuße der Altstadt, erstrahlt eine futuristisch-gläserne Fußgängerbrücke über dem Fluss Kura.
Am Freiheitsplatz, einem überdimensionierten Kreisverkehr mit klassizistisch-repräsentativen Gebäuden, setze ich mich in ein 24/7 Restaurant. An einem der hinteren Tische küsst sich ein Paar leidenschaftlich, das dem Anschein nach noch aus der Tiefe der Nacht kommt. Ich habe Hunger, schaue mir die Speisekarte an: Neben Pizza und Hamburger finden sich auch traditionelle georgische Gerichte wie Chinkali, Teigtaschen mit Hackfleischfüllung oder Tschanachi, ein Hammeleintopf mit Auberginen. Als Vegetarier entscheide ich mich aber doch lieber für ein Chatschapuri, ein mit Käse und einem Spiegelei gefülltes Brot. Während die Stadt langsam erwacht, esse ich mein Chatschapuri, trinke einen türkischen Kaffee und versuche, so gut es eben geht, das sich wild knutschende Liebespaar hinter mir zu ignorieren.
Tiflis, von den Einheimischen Tbillissi genannt, hat knapp über eine Millionen Einwohner. Nahezu jeder vierte Georgier wohnt in der Hauptstadt. Auf den Boulevards in der Innenstadt befinden sich Sushi-Restaurants, elegante Boutiquen, Einkaufszentren und die allgegenwärtigen Restaurants der globalen Schnellimbissimperien. Der Verkehr ist ohrenbetäubend, wild, chaotisch. Pausenlos wird gehupt und geschimpft; die Verkehrsschilder werden konsequent missachtet, scheinen den Fahrern hier nur als Dekoration zu dienen.
Als Fußgänger hat man hier nichts zu melden, man wird hier fortwährend durch endlose Unterführungen geschleust. Die dunklen Unterführungen nerven mich. Ich laufe einen der unzähligen steilen Hügel hinauf, die die Stadt idyllisch umgeben. Im Gegensatz zur modernen Innenstadt scheinen die engen Gassen hier wie aus der Zeit gefallen. Der Putz bröckelt von den alten kleinen Häusern. Wie aus dem Nichts tauchen kleine jahrhundertealte orthodoxe Kirchen auf, vor denen sich nahezu jeder Passant bekreuzigt. Frauen tragen ihren schweren Einkauf mühsam die steilen Gassen hinauf.
Bars und Cafés in der Altstadt
Am Abend sitze ich in einer Bar in der Kote-Afkhazi-Straße, die niemand so nennt, weil alle noch den alten sowjetischen Namen Leselidze benutzen. Die Leselidze ist eine enge Gasse mit wunderschönen kleinen Häusern. Hier, am unteren Ende der Altstadt, pulsiert nachts das Leben. Die Bars, Cafés und Restaurants sind bis auf den letzten Platz gefüllt. Es sind, obwohl es schon recht spät ist, auffällig viele Familien unterwegs.
Am nächsten Tag fahre ich mit dem Bus zum Hauptbahnhof, will mir ein Ticket nach Batumi kaufen. Batumi ist eine Stadt mit 180.000 Einwohnern am Schwarzen Meer. Ein Freund hat mir erzählt, dass es dort sehr schön sein soll. Als ich am Schalter in der Bahnhofshalle stehe, lacht mich die Frau hinter der Glasscheibe aus. Nur zwei Züge pro Tag würden nach Batumi fahren, sagt sie. Es sei Hochsaison, alle Tickets seien bereits seit Wochen ausverkauft. Ich frage sie, warum man dann nicht mehr Züge einsetzt. Diese Frage scheint sie als Unverschämtheit aufzufassen. Ihr schmallippiges Bürokratengesicht verfinstert sich. Sie sagt: „No train to Batumi. Go with the bus. Goodbye.“ Und wo fahren die Busse? „No idea. Goodbye.“ Na danke schön, denke ich. Im staatlichen Eisenbahnbetrieb herrscht noch der autoritäre Geist aus den guten alten Sowjetzeiten. Nach längerem Suchen finde ich einen Bus, der mich am nächsten Morgen zum Schwarzen Meer fährt.
Von Ost nach West geht es 400 Kilometer quer durch das Land Richtung Batumi. Fahrtzeit: sechs Stunden. Ich bin müde, habe in den letzten Tagen kaum geschlafen. In den kurzen Wachphasen singen eine Mutter und ihr kleiner Sohn, die hinter mir sitzen, ganz leise und sanft georgische Lieder. Es ist ein schöner, ein besänftigender Gesang mit Liedern, die von weither aus einer jahrhundertealten Tradition zu kommen scheinen. Während die beiden singen, denke ich, dass uns in Deutschland das schöne Singen fehlt. Dann schlafe ich wieder ein.
Ankunft in Batumi. Der Taxifahrer verlangt 10 Lari bis zum Hostel, und ich denke, dass es zu viel ist, ich aber auch nicht die einheimischen Preise bezahlen muss. Wir fahren los und erreichen nach ein paar Minuten das Hostel. Ich habe nur einen 20-Lari-Schein. Er steckt ihn ein und macht keine Anstalten, mir das Wechselgeld zurückzugeben. Ich sage, dass wir 10 Lari vereinbart hatten. Er behauptet, dass wir 20 gesagt hätten, und schreit mich an. Mein Taxifahrer ist sehr stämmig, hat ein dickes Gesicht und dunkle Augen, aus denen die Geldgier heraussticht. Nach einigem Hin und Her gebe ich auf. Mir fehlt einfach die Kraft, mich weiterhin mit diesem hinterhältigen Typen zu streiten. Ich steige aus, er fährt mit quietschenden Reifen davon. Es fühlt sich nicht gut an, übers Ohr gehauen zu werden, und als ich mich noch über meine Nachgiebigkeit ärgere, fällt mir auf, dass ich meine Reisetasche in seinem Kofferraum vergessen habe.
Auch der Reisepass ist weg
Scheiße, denke ich. Waschzeug und Klamotten könnte ich ja noch ersetzen. Aber in der Tasche befindet sich auch mein Reisepass. Der georgische Hostelbesitzer versteht kein Englisch. Eine Ukrainerin übersetzt für uns. Der Hostelbesitzer ist felsenfest davon überzeugt, dass der Taxifahrer meine Tasche in der nächsten halben Stunde zurückbringen wird. Ich bin mir nicht so sicher. Es vergehen 45 Minuten. Der Taxifahrer kommt nicht. Der georgische Hostelbesitzer, ein dürrer, schlanker Mann, ist wütend und gibt mir zu verstehen, dass wir ihn suchen werden. Wir steigen in sein altes klappriges Auto und fahren zum Busbahnhof. Am Busbahnhof stehen ein Dutzend Taxis. Mein Taxifahrer ist nicht dabei. Wir fahren immer wieder um den Busbahnhof herum, und dann sehe ich ihn plötzlich. Der Taxifahrer schaut mich ganz unschuldig an und gibt mir meine Tasche zurück. Der Pass ist noch da. Ich kann mein Glück kaum fassen, bin dem Hostelbesitzer unendlich dankbar und nenne ihn nur noch: „My hero.“
Am Abend spaziere ich zur Strandpromenade. Batumi ist eine Boomtown am Schwarzen Meer. Die Türkei und Russland sind nicht weit entfernt. Sheraton, Hilton und Donald Trump sind schon da. Die Russen kaufen und bauen auch wie wild. Die Hotels sind bunt wie im Playmobil-Land, die Fassaden der Kasinos vergoldet, die Wolkenkratzer architektonisch verspielt. In der Nacht erschallt die Stadt in einer Kakofonie aus Disco-und Volksfestmusik, in der Nacht flimmert und leuchtet Batumi wie ein einziger riesiger blöder Freizeitpark.
Der nächste Tag. Die Touristen, die dickbäuchigen und blassen russischen Familien, die unseren Mallorca-Besuchern ähneln, liegen dicht gedrängt auf dem Kieselstrand. Es herrscht subtropisches Klima. Königspalmen säumen die Straßen ins Zentrum. Ein Riesenrad dreht sich. Ein Springbrunnen tanzt zu Mozarts „Kleiner Nachtmusik“. Zwei russische Damen mit Sonnenhüten fotografieren sich zur Belustigung bei einem Straßenhändler mit einem kleinen süßen Klammeraffen, den man in ein rosafarbenes Puppenkleid gesteckt hat. Batumi ist eine Mischung aus postsozialistischer Zuckerwattenarchitektur und russisch-georgischen Ballermanntourismus, mit der ich nichts, aber auch wirklich gar nichts anfangen kann. Ich beschließe, einen Tag früher als geplant nach Tiflis zurückzukehren.
Anders als bei der Hinfahrt bin ich diesmal hellwach. Nach kurzer Zeit schlängelt sich der Bus bereits durch die Täler und Höhen der Gebirgszüge. In den rauschenden Flüssen stehen Männer mit ihren Angelruten. Es geht immer höher und höher, die Wolken haben sich in den Bergen verfangen. Vereinzelt sieht man eine orthodoxe Kirche oder ein Kloster auf einem felsigen Gipfel. Es nieselt. Die vielen Frauen, die am Straßenrand frisch gebackenes Chatschapuri zum Verkauf anbieten, scheinen trotz Wind-und Regenjacken ein wenig zu frieren. Unzählige Kühe und Rinder weiden an den schmalen Grünflächen entlang der Gebirgsstraßen. Manchmal legt sich ein Rind mitten auf die Straße. Es ist wie in Indien: Hupen bringt nichts, man muss die Rinder vorsichtig umkurven.
Der georgische Traum von Europa
Im Busradio läuft jetzt ein russischer Sender. Es sind nur ein paar wenige Kilometer bis Südossetien. Die zwei Republiken Abchasien und Südossetien haben im Kaukasuskrieg 2008 mithilfe der russischen Armee ihre Unabhängigkeit von Georgien erklärt. Es ist einer von Putins geostrategischen eingefrorenen Konflikten. In Georgien blickt man sehnsuchtsvoll gen Westen. An allen öffentlichen Gebäuden hängt neben der georgischen auch die europäische Fahne. Aber dieser georgische Traum von Europa, denke ich, wird nur zu Enttäuschungen führen. Denn weder die EU noch die Nato werden Georgien aufnehmen, solange Russland seine Armeen in Abchasien und Südossetien stationiert hat.
Nach ein paar Stunden verlässt der Bus das Gebirge. Neben der Schnellstraße tauchen alle halbe Stunde Schilder mit den Entfernungen zu anderen Städten auf: Jerewan 343 km, Baku 660 km, Teheran 1.240 km. Zum ersten Mal begreife ich sinnlich, in welchem geografischen Raum ich mich hier eigentlich bewege.
Mit halbstündiger Verspätung erreichen wir Tiflis. Ich fahre, nachdem wir die hässlichen sozialistischen Betonorgien der Vorstädte passiert haben, wieder in dasselbe Hostel. Drei Männer und eine Frau, Studenten aus dem russischen Krasnodar, bereiten einen Tomatensalat zum Abendessen vor. Wir kommen schnell ins Gespräch, freunden uns an. Ich werde zum Essen eingeladen. Wir sitzen auf einem dieser bezaubernden Holzbalkone mit Blick auf die Altstadt. Marija, Sascha, Boris und Alexei erläutern mir, während die untergehende Sonne hinter einem Berg verschwindet, dass die Russen Georgien geradezu anhimmeln.
Boris sagt: „Wir lieben ihre herzliche Mentalität, ihre alte Kultur, ihren Gesang, ihre schneebedeckten Berge, ihre sonnigen Strände und ihren grandiosen Wein.“ Georgien, so kommt es mir vor, ist für die Russen unser Italien, scheint für die Russen jenes Sehnsuchtsland zu sein, wo die Zitronen blühen.
Die vier Freunde aus Krasnodar haben georgischen Wein eingekauft, sehr viel Wein. Wir trinken und verheddern uns zu später Stunde bedauerlicherweise in eine politische Diskussion. Sie behaupten, dass wir im Westen Russland nicht verstehen würden. Wir sprechen über Putin, die Ukraine, über Südossetien. Die Meinungen gehen weit auseinander. Wir debattieren und trinken und debattieren und trinken und fallen irgendwann spät in der Nacht völlig erschöpft ins Bett.
Der letzte Tag: Ich bin leicht verkatert, schaue mir noch ein wenig die Stadt an. Ich komme am Zoo vorbei, der vor zwei Jahren nach heftigen Regenfluten weitgehend zerstört worden war. Damals herrschte Chaos in Tiflis. Tagelang sind Bären, Tiger, Nilpferde, Schakale, Wölfe und Löwen durch die Stadt gestreunt. Ein Löwe hat sogar einen Mann in einem Lagerhaus getötet. Gut, dass es nicht regnet, denke ich und laufe weiter.
Eine eigenartige Mischung
In der David-Aghmashenebeli-Straße mit ihren schönen kleinen Häusern setze ich mich in ein Café. Der Laden ist voll. Nur noch im hinteren Bereich ist eine gepolsterte Ledersitzecke frei. Das Café ist modern, stilvoll eingerichtet, am Tisch rechts gegenüber von mir sitzen vier junge georgische Mädchen und tippen irgendetwas gelangweilt in ihre Smartphones ein. Georgien, so kommt es mir jedenfalls vor, ist eine eigenartige Mischung: ist Tradition, Postsozialismus, Russland, Westen und ferner Kaukasus. Und dann denke ich: Scheiß-Smartphones und laufe die letzten Stunden vor meinem Abflug noch ein wenig ziellos durch die Stadt.
Plötzlich bemerke ich, dass sich jemand zu mir gesellt hat. Auf dem Rustaweli-Boulevard, der Prachtstraße der georgischen Hauptstadt, verfolgt mich einer der vielen herrenlosen Straßenhunde von Tiflis. Es ist ein alter Hund mit weißem Fell und sehr traurigen Augen. Nachdem wir eine halbe Stunde gemeinsam durch die Stadt spaziert sind, habe ich eine Idee. In meinem Geldbeutel sind noch ein paar Laris. Ich drehe mich zum Hund um und sage: „Heute ist dein Glückstag. Wirst schon sehen.“
Ich frage ein paar Passanten, wo es hier in der Nähe einen Metzger gibt. Ich finde den Metzger und kaufe Kalb-, Rind- und Lammfleisch. Es ist das erste Mal seit 17 Jahren, dass ich etwas bei einem Metzger eingekauft habe. Ich bin Vegetarier. In einem kleinen Park in der Nähe gebe ich dem Hund das Fleisch. Das Tier isst und schmatzt und scheint überglücklich zu sein.
Ein wenig später hole ich meine Reisetasche aus dem Hostel. Der Hund weicht nicht von meiner Seite, verfolgt mich auf Tritt und Schritt. Wir gehen gemeinsam zur Bushaltestelle, und ich sage ihm: „Tut mir leid. Hier werden sich unsere Wege trennen. Mehr kann ich nicht für dich tun.“ Der Bus kommt. Ich steige ein. Der Hund schaut mich mit seinen tieftraurigen Augen an und ich sage: „Tschüss Hund, tschüss Tiflis, tschüss Georgien.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!