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Schwarze und queere BiografieLeben als Überleben

Sie hat Black Lives Matter mitbegründet: In ihrer Autobiografie erzählt Patrisse Khan-Cullors ihre persönliche Vorgeschichte.

Ein Black-Lives-Matter-Aktivist bei einer Demonstration in St. Louis Foto: reuters

Das traditionelle Familienbild ist für Patrisse Khan-Cullors von klein auf ein fremdes Konzept. Ihre alleinerziehende Mutter bekommt sie nur selten zu Gesicht, weil sie von 6 bis 22 Uhr diversen Jobs nachgehen muss, um den kaputten Kühlschrank zu füllen. Den Haushalt schmeißt Khan-Cul­lors’ ältester Bruder. Vater Alton ist nur noch selten zu Besuch, seitdem er seinen Job bei General Motors verlor und in die Sucht abgedriftet ist.

Irgendwann stellt sich jedoch heraus, dass nicht er, sondern ein Mann namens Gabriel ihr leiblicher Vater ist. Die kleine Patrisse lernt ihn und seine herzliche kreolische Großfamilie kennen und lieben. Doch auch er hat mit Sucht und Armut zu kämpfen. Wenn er nicht gerade im Knast sitzt, beginnt er immer wieder ein sogenanntes 12-Schritte-Programm, das ihn heilen soll, indem es ihm Schuldeingeständnisse entlockt. Schon früh zweifelt seine Tochter an dem Programm, das ihn allein für die Misere verantwortlich macht, in der er steckt. Mit 50 Jahren wird sie ihn das Leben kosten.

Patrisse Khan-Cullors, geboren 1984 in Los Angeles, ist queere schwarze Aktivistin und Mitbegründerin von Black Lives Matter. Die Bewegung gegen Racial Profiling und Polizeigewalt formierte sich im Sommer 2013 nach dem Freispruch George Zimmermans. Zimmerman hatte den unbewaffneten Schwarzen Jugendlichen Trayvon Martin erschossen, weil er ihn für „verdächtig“ hielt. Als in den folgenden Monaten zahlreiche ähnliche Fälle publik wurden, verwandelte sich Black Lives Matter vom Hashtag in den sozialen Medien zu einer Welle von Straßenprotesten in vielen US-Städten.

War on Drugs

Unter Mithilfe der Journalistin Asha Bandele hat Patrisse Khan-Cullors nun ein Buch über ihr Leben geschrieben. Oder besser: über ihr Über­leben. Und die Idee, dass dies nur mit kollektiven Strategien möglich ist. Schritt für Schritt formiert sich eine Wahlfamilie um Khan-Cullors, aus befreundeten Aktivist*innen, die für sie da sind und für die sie da ist, wann immer der Staat versagt. Und das scheint im armen, mexikanisch geprägten Viertel Van Nuys, wo Khan-Cullors zum ­Höhepunkt des war on drugs aufwächst, erschreckend häufig zu geschehen.

„When they call you a terrorist“ heißt das Buch im Original, für die deutsche Übersetzung hat man den leichter zu verortenden Titel „#BlackLivesMatter“ gewählt. Womöglich, weil hierzulande Terrorismus eher mit Muslimen als mit der Kriminalisierung von Schwarzen assoziiert wird. Dabei nimmt die Gründung von Black Lives Matter nur knapp ein Drittel am Ende des Buchs ein, thront dort wie die Spitze eines mächtigen Eisbergs. Im Vordergrund steht Patrisse Khan-Cullors’ Biografie, die einen Kontext zum Engagement der Bewegung bieten soll, als Erzählung einer idealtypischen armen schwarzen Familie in der Großstadt.

Schritt für Schritt formiert sich eine Wahlfamilie um Khan-Cullors, aus befreundeten Aktivist*innen, die für sie da sind und für die sie da ist, wann immer der Staat versagt

Viel wurde bereits über die folgenschwere War-on-drugs-Politik geschrieben, die von Richard Nixon eingeführt und in den 1980ern von Ronald Reagan in aller Härte fortgeführt wurde. Zeitgleich mit der Wirtschaftskrise und einer Sozialreform, die für drastische Kürzungen sorgte, führte die Drogenpolitik vor allem zur Masseninhaftierung von Schwarzen und Latinos aus Problembezirken. Der Soziologe Loïc Wacquant etwa spricht von einer Symbiose zwischen Gefängnis und Ghetto, die sich in dieser Zeit formierte. Beide Orte hätten die Funktion von „Lagerhäusern“ übernommen, wo „überflüssige“ Arbeitslose aufbewahrt, kontrolliert und definiert werden konnten.

Prison Fire Camp

Khan-Cullors untermauert diese Erzählung exemplarisch und reichert sie mit unzähligen schockierenden Details an. Als ihrem Vater etwa wegen Drogenbesitzes sieben Jahre Haft drohen, kann er sie auf drei Jahre minimieren, indem er sich beim „Prison Fire Camp“ meldet. Mitglieder dieses Camps werden noch vor den ausgebildeten Einsatzkräften als Erste vorgeschickt, wann immer ein Waldbrand in Kalifornien ausbricht.

Ihrem psychisch kranken Bruder Monte droht eine lebenslange Haft, weil er in einem manischen Schub beginnt, willkürlich Menschen anzubrüllen. Er wird des Terrorismus beschuldigt. Später kommt heraus, dass man ihn im Bezirksgefängnis von L. A. nicht nur mit den falschen Medikamenten in Lebensgefahr brachte, sondern dass Wachleute ihn wie unzählige weitere Insassen über zwei Jahrzehnte lang systematisch missbrauchten und folterten, mit Methoden, die später in Abu Ghraib an Kriegsgefangenen angewandt werden.

Das Buch

Patrisse Khan-Cul­lors: „#Black­Lives­Matter“. Kiwi, Köln 2018, 288 Seiten, 20 Euro

Auch die Black-Lives-Matter-Bewegung wird mit dem Vorwurf des Terrorismus konfrontiert. Spätestens als bei den Massenprotesten in Ferguson (die auf die Tötung des Schwarzen Jugendlichen Michael Brown folgen) die Anweisungen der Einsatzkräfte missachtet werden. Ja, schon von Anfang an muss Khan-Cullors auch in ihrem eigenen Umfeld den Slogan „Black Lives Matter“ verteidigen. Er sei separatistisch, heißt es. Warum nicht „All Lives Matter“? Khan-Cullors argumentiert, dass dies impliziere, alle Menschen seien von rassistischer Gewalt und sozialer Ungerechtigkeit gleichermaßen betroffen – was nun mal falsch sei.

Ärgerlich ist in der deutschen Übersetzung dieses unbedingt lesenswerten Buchs die fehlerhafte Wahl von politischen Begriffen – so werden People of Color als „farbige“ Menschen übersetzt, obwohl dieses Wort nie als Selbstbezeichnung verwendet wurde und schlicht ein Überbleibsel aus der Kolonialzeit ist. Zudem fällt mehrfach der Ausdruck „Rasse“, der im Deutschen aus historischen Gründen zu Recht ein Tabu ist und deshalb nicht als direkte Übersetzung von „race“ gelten kann. Im Englischen hat der Begriff einen ganz anderen Bedeutungswandel durchgemacht. Hier hätte ein sprachsensibleres Lektorat gutgetan.

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2 Kommentare

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  • „Hier hätte ein sprachsensibleres Lektorat gutgetan.“

     

    Keine Frage: Lektorate können überaus hilfreich sein. Die Professionalität mancher Autoren lässt an dieser Stelle ja doch arg zu wünschen übrig. Das Problem mit der Sensibilität ist nur, dass sie individuell ist – oder sie ist keine.

     

    Es ist eine ebenso weit verbreitete wie ärgerliche Unsitte, andere Menschen nur dann für sensibel zu halten, wenn sie mit einem mitfühlen, nicht wenn sie selbst fühlen. Auch hier herrscht Konkurrenz. Wer zwar das selbe fühlt, jedoch für sich, dem wird leicht jede Sensibilität vollständig abgesprochen. Das ist ein großer Fehler, auf dem viele andere gründen.

     

    Warum „Black Lives Matter“ und nicht „All Lives Matter“? Ganz einfach: Der Ausruf ist eine Reaktion auf das Gefühl, schwarze Leben würden im Zweifel eben nicht zählen. Weil sie beim kleinsten Anlass ohne großes Abwägen beendet werden. Weiße Menschen werden sehr viel seltener vorbeugend erschossen.

     

    Es geht um eine Gleichwertigkeit, die noch nicht existiert - und leider auch nie existieren wird, wenn das so weiter geht. Eigentlich müsste es nämlich heißen: „Black Lives Matter Too“. Leider ist der Satz zu lang für einen Schlachtruf. Er signalisiert zudem eine Defensive, in die sich „Schwarze“ nicht mehr drängen lassen wollen.

     

    Deswegen wird das „auch“ verschluckt. Mit der Folge, dass "Schwarze" ihren "weißen" Leidensgenossen die Leerstelle immer wieder erklären müssen. Das Gefühl, ihre Leben würden nicht zählen, kennen schließlich auch viele Weiße in den USA. Nur können sie sich nicht auf ihre Hautfarbe berufen.

     

    „White Lives Matter“ klänge vor dem Hintergrund der Machtverhältnisse einfach nur albern. Das Problem: Um etwas zu ändern, müssten sich weiße und schwarze Opfer der Verhältnisse zusammentun. Und zwar gegen die Leute, die übertragene Macht missbrauchen. Leider hindert ihre Sensibilität beide Seiten, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren. Und wenn sich zweie streiten, freut sich wer? Der Dritte, ganz genau.

    • @mowgli:

      "Weil sie beim kleinsten Anlass ohne großes Abwägen beendet werden. Weiße Menschen werden sehr viel seltener vorbeugend erschossen."

       

      Ohne es anzuzweifeln zu wollen:

       

      Kennen Sie dazu zufällig eine belastbare Statistik? Ich habe noch nie einen einzigen Artikel zu diesem Thema mit Zahlen gefunden.

       

      Bestenfalls absolute Zahlen, die leider wenig aussagen.