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Debatte GanztagsschuleNichts für Familienfundis

Kommentar von Thomas Gesterkamp

Die Politik will den schulischen Ganztag garantieren – bis 16 Uhr. Doch eine angemessene Betreuung am Nachmittag ist nicht in Sicht.

Statt die Schüler im Regen stehen zu lassen, sollte die Betreuung besser organisiert werden Foto: dpa

V or ein paar Jahren berichtete die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) aus dem nordbadischen Walldorf. In der Kleinstadt bei Heidelberg hat die Softwarefirma SAP ihren Sitz. Hier wohnen viele junge Familien, in denen beide Eltern beim größten Arbeitgeber des Ortes beschäftigt sind. Oft sind sie zugezogen, die Großeltern leben weit entfernt – sie brauchen eine zuverlässige Kinderbetreuung den ganzen Tag über. Dank hoher Steuereinnahmen konnte die Kommune auf diese Wünsche reagieren. Mit großem finanziellen Aufwand richtete sie „gebundene“ Ganztagsschulen ein. Im Gegensatz zum Offenen Ganztag (Ogata), wo der Besuch nach dem Mittagessen freiwillig ist, gilt eine Schulpflicht. Immerhin bis 17.30 Uhr (auch wenn dann längst nicht alle SAP-Angestellten mit der Arbeit fertig sind) werden die Kinder durch städtisches Personal versorgt.

Solche Angebote sind immer noch die Ausnahme – und der Frankfurter Allgemeinen Anlass zu grundsätzlicher Kritik. „Bis die Sonne untergeht“ titelte das Hausblatt der deutschen Konservativen. „Manche Kinder werden schon um sieben Uhr früh gebracht – die kommunalen Betreuer stehen eine Stunde vor Unterrichtsbeginn bereit. Die Schüler kommen im Dunkeln und gehen in der Dämmerung. Betreuung bis zu zehneinhalb Stunden am Tag, 50 Stunden in der Woche. Für manche Berufstätige mag das ein Traum sein. Und für die Kinder?“

CDU-Bürgermeisterin Christiane Staab ist Mutter von vier Kindern und trägt den Spitznamen „Die von der Leyen von Walldorf“. Sie schwärmt von der Schule als „Lebensraum“, der Ganztag könne „ein Stück weit Familie ersetzen“. In der Schiller-Grundschule etwa hat jede Klasse zwei Räume: einen für den Unterricht und einen für das „Differenzieren“, das gezielte Weiterlernen nach persönlichem Bedarf. Es gibt eine Mensa, spannende Arbeitsgemeinschaften und einen Wasserspielplatz. Bildung in Vielfalt und durchaus entspannt – aber ein Horrorszenario für Familienfundamentalisten.

In dem FAS-Bericht hat ein Junge am ersten Schultag „um zwei Uhr Heimweh“ und überhaupt: „Immer mehr Kinder sind verhaltensauffällig.“ Denn im Ganztagssystem sei die „Basisstation“ nicht mehr die „elterliche Wohnung, sondern die Institution“.

Thomas Gesterkamp

ist Politikwissenschaftler und Autor. In seinen Texten und Büchern beschäftigt er sich mit den Umbrüchen der Arbeits­gesellschaft, speziell mit den Spannungen zwischen Vätern, Kindern und Karriere, aber auch mit dem Thema Zeit.

Die Zeitung zitiert Psychologen und Kinderärzte, die betonen, wie wichtig Nichtstun für die menschliche Entwicklung sei: „Toben ohne Trainer, Ruhe ohne Zeitfenster, Rückzug ohne Rückzugsecke. Viele Kinder können das schon gar nicht mehr: sich ausklinken.“ Und, als Wink an die Eltern: „Manche vergessen, dass dieses durchgetaktete Leben nicht eine Zusammenballung von Umständen ist, an denen sich nichts ändern lässt, sondern die Summe von Entscheidungen, die sie selbst getroffen haben.“

Ökonomische Zwänge ignoriert

Doch das ist der springende Punkt: selbst getroffene Entscheidungen? Wer über zu viel „Programm“ und das Verplanen der Kindheit klagt, ignoriert die ökonomischen Zwänge, die familienfeindlichen Strukturen der Erwerbswelt. Das Software-Projekt von SAP muss eben unbedingt fertig werden! Und wo gibt es reduzierte Arbeitszeiten für Eltern, die nicht gleich zum Karriereknick führen? Kinder, die durch Schnee und Regen stapfen, noch bevor die Sonne aufgeht – das ist in der Tat kein schöner Gedanke. Warum aber fängt die deutsche Schule um acht Uhr an, teilweise sogar früher? Wieso nicht um neun, wie in Großbritannien, oder für Jugendliche noch später, wie Chronobiologen empfehlen?

Hier beißt sich die konservative Kulturkritik in den Schwanz. Denn der zeitige Beginn ist notwendige Voraussetzung des von ihr betrauerten Halbtagssystems, anders ist das Lernpensum nicht zu schaffen. Mit der Entzerrung des Unterrichts dagegen ergeben sich, ganz im Sinne der Entwicklungspsychologie, neue Möglichkeiten. Warum werden sie nicht genutzt? Der frühe Start ist ein Relikt der Industrialisierung, er soll disziplinieren für künftige Anforderungen wie Pünktlichkeit und Anpassung. Der „frühe Vogel“ frisst, so das gern bemühte Bonmot, den Wurm. Ein (ökonomisch nicht besonders erfolgreiches) ostdeutsches Bundesland warb einst mit dem Slogan „Willkommen im Land der Frühaufsteher“.

Weil das nicht mehr zur selbstverständlichen Berufstätigkeit der Mütter passt, debattieren Politiker jetzt über das Recht auf den Ganztag.

Das Halbtagssystem ist ein (west-)deutscher Sonderweg, in fast allen europäischen Ländern ist Nachmittagsunterricht selbstverständlich. Ideologische Grundlage ist die Ablehnung von Erziehung als öffentlicher Aufgabe. „Verwahranstalten“, „Rabenmütter“ oder „Schlüsselkinder“ sind deutsche Begriffe, die es in anderen Sprachen nicht gibt. So ist in Frankreich der Staat als pädagogische Instanz seit der Aufklärung positiv besetzt – während man in der Tradition deutscher Innerlichkeit und nach dem Nationalsozialismus totalitäre Indoktrination wittert. Deshalb soll Schule ihre „Einmischung“ auf wenige Stunden beschränken.

Weil das nicht mehr zur selbstverständlichen Berufstätigkeit der Mütter passt, debattieren Politiker jetzt über das Recht auf den Ganztag. Der Mut zum großen Wurf aber fehlt, man betreibt Flickschusterei und improvisiert mit Billigvarianten. Der Offene Ganztag bedeutet in der Regel Unterricht am Vormittag mit anschließender Beaufsichtigung durch schlecht bezahlte Hilfskräfte. An vielen Schulen gibt es keine richtige Küche, nicht einmal eigene Räume für die Mittagspause. Lehrer und Lehrerinnen sind zwischen 13 und 14 Uhr verschwunden, die Versorgung der Kinder übernehmen freie Träger oder Ehrenamtliche aus Vereinen. In den Ferien, rund einem Viertel des Jahres, läuft meist gar nichts.

Künftig soll es einen Anspruch auf Betreuung in der Grundschule bis 16 Uhr geben – so diskutieren es die potenziellen Koalitionäre einer neuen Bundesregierung. Notwendig aber wäre ein selbstverständlicher Ganztagsunterricht, in dem sich Lernen und Freizeit abwechseln. Nur so würde das zermürbende Jonglieren der Eltern zwischen Stunden- und Schichtplänen beendet.

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10 Kommentare

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  • Endlich mal ein guter FAZ- bzw. FAS-Artikel!

  • 8G
    849 (Profil gelöscht)

    "Wer über zu viel „Programm“ und das Verplanen der Kindheit klagt, ignoriert die ökonomischen Zwänge, die familienfeindlichen Strukturen der Erwerbswelt. Das Software-Projekt von SAP muss eben unbedingt fertig werden!"

     

    Nichts muss unbedingt fertigwerden. Wenn die Software schwerwiegende Fehler hat, wird sie (meist) auch nicht ausgeliefert. Da geht dann auf einmal die Verschiebung des Termins, den man von vornherein nicht so früh ansetzen müsste.

     

    Das Problem sind die "angeblichen ökonomischen Zwänge", die zur Rechtfertigung für die "Karriere" herhalten müssen, der man notfalls und wie selbstverständlich auch die Kinder unterordnet. Das muss nicht so sein. In Dänemark konnte ich letztes Jahr beobachten, dass die Eltern sehr früh zuhause sein können, während man bei SAP (wenn meine Erfahrung aus anderen Softwarehäusern hier auch stimmen) ja schon schief angeschaut wird, wenn man vor 6 das Büro verlässt.

     

    Man muss es nur wollen. Aber man will in diesem Land nicht, das Arbeit geradezu fetischisiert hat (als ob sie unter diesen Bedingungen und überhaupt "frei" machen könnte), das sogenannten "Karrieren" nachläuft, die nie oder nur bei vorzeitigem Ableben oder Verrentung ein notgedrungenes Ende finden, das sich "Selbstverwirklichung" auf die Fahnen schreibt, obwohl das Selbst unter den Umständen seiner "Verwirklichung" immer prekärer zu werden scheint.

     

    Die Dialektik dieser Entwicklung will gerade der vermeintlich fortschrittliche Teil dieser Gesellschaft nicht sehen, weil er selbst an diesem Fetisch partizipiert und von diesem am meisten nutznießt.

    • @849 (Profil gelöscht):

      Vielen Dank für den wertvollen Beitrag!

    • @849 (Profil gelöscht):

      Ja! Das schöne ist, das unter diesen Umständen die Aufzucht eines Kindes so kompliziert wird, dass diese Kinder auf gar keinem Fall mehr welche haben wollen. So bricht die Kette dann einfach.

      • 8G
        849 (Profil gelöscht)
        @Energiefuchs:

        Kinder gehören heutzutage oft (komplementär) zur Karriere. müssen die narzisstische Bedürftigkeit (vor allem der Mütter) im Privaten befriedigen, wozu im Öffentlichen der Job (ggf. auch der des Mannes) herhalten muss. Die oft dauergehetzten Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die solchen Elternhäusern entstammen, sind zu bedauern, aber es bleibt zu hoffen, dass das Pendel bei ihnen wieder umschwenkt.

         

        Ich sehe allerdings schwarz, solange wir nicht als Gesellschaft einen neuen Zugang zur Arbeit gewinnen. Es geht um Life-Work-, nicht um Work-Life-Balance.

  • Wenn die Eltern 8 Stunden arbeiten, 45 min Mittagspause machen, 30 min für den Fahrweg draufgehen, ist das Kind über 9 Stunden in Betreuung. Egal ob es um 7 oder um 9 losgeht! Dann geht es halt abends noch länger!

    Gebundener Ganztag ist das Schlimmste was es gibt. Kein Sportverein, kein Verabreden mit Freunden, keine Zeit, falls die Oma doch mal vorbeikommt und das Kind gerne mittags holen würde. Halbtagsschule mit Nachmittagsangebot reicht völlig aus!

  • 8G
    83663 (Profil gelöscht)

    "Ganztagsunterricht in dem sich Lernen und Freizeit abwechseln."

    Und dann kann das Kind nur die Hobbys ausüben, die die von der Schule angeboten werden. Dann kann das Kind eben nicht mehr mit großer Freude beim Sportverein Einrad fahren. Bewegungsspiele aus dem Schulprogramm reichen doch auch, oder???

  • Kann mir vielleicht jemand mit einer Statistik aushelfen?

     

    Ich wüsste zu gern, wie viele FAS-Leser*innen als Kinder auf einem (natürlich vorbildlich geführten) Internat waren oder gerne gewesen wären, und wie viele ihre eigenen Kinder auf einem Internat hatten, haben oder doch ganz gerne (gehabt) hätten, weil sie sich davon einen Wettbewerbsvorteil versprechen für ihre Kids. Und dann wüsste ich noch gern, wie viele dieser Leute sich selbst in die Rubrik „Familienfundamentalisten“ einordnen würden, würde man sie darum bitten würde, es zu tun.

     

    Ich möchte beinah wetten: Der Anteil derjenigen FAS-Leser*innen, die - unter gewissen Umständen - ganz prima damit leben konnten, können oder könnten, dass Eltern und Kinder sich allenfalls in den Ferien sehen, ist um einiges höher, als der Anteil der SAP-Mitarbeiter*innen, die ein Internat für ihre Zehnjährigen auch nur ansatzweise in Erwägung ziehen. Jetzt und da, meine ich, wo sie Beruf und Familie angeblich prima miteinander vereinbaren können dank großzügigen Einsatzes reichlich (zurück-)fließender öffentlicher (Steuer-)Einnahmen.

     

    Die CDU-Bürgermeisterin von Walldorf scheint jedenfalls mit der Zeit zu gehen. Sie wirtschaftet offenbar wirtschaftsfreundlich. Und „die“ Wirtschaft fühlt sich ja derzeit schon sehr, sehr fortschrittlich, wenn sie zwar nicht familienfreundlich arbeiten lässt, aber immerhin dafür sorgt, dass die Kommunen die dadurch entstehenden Probleme halbwegs befriedigend managen. Zumindest aus Sicht derjenigen Erwachsenen, die ihre Prioritäten ebenfalls wirtschaftsfreundlich setzen. Wer fragt schon Zehnjährige danach, was sie sich (heimlich) wünschen?

  • Ich halte nichts von diesen ganzen Pauschalisierungen. Für manche Kinder ist es toll, so lange rundumbetreut zu werden, für andere, die mehr Rückzugsräume und Tagträumereien brauchen, ist es die Hölle (eigene Erfahrung).

    • @Gregor Brauneck:

      So ist es!