Dercon an der Berliner Volksbühne: Was es zu sehen gab, war gut, aber…
Das ganz große Drama fand 2017 rund um die Berliner Volksbühne statt. Ein Zwischenresümee der ersten Dercon-Spielzeit.
Es gibt keine Stars mehr, nur noch Kollektive. Das Individuum verschwindet, taucht ab hinter einer Maske, wird anonymisiert in der Masse. Das Leben ist eine Karaokeshow, die Formen geliehen, Gesten und Sätze sind Zitate. Kunst, die sehr arm aussieht, kostet besonders viel.
Das ist kein Manifest, nein, das ist eine Bilanz der ersten Spielzeithälfte der Volksbühne Berlin unter Chris Dercon, des holprigen Anfangs seiner Intendanz. Es ist eine düstere Farbe, die dieses Theater in seinen Tanz- und Theaterstücken trägt. Denn in den Konzepten der Verneinung, der Verweigerung der Opulenz auf der Bühne, dem Unterlaufen von Erwartung an Spannung, dem Markieren von Konventionen als nicht notwendiger Voraussetzung für die Kunst, passt, was seit dem 10. September zunächst auf dem Tempelhofer Feld und dann im Haus am Rosa-Luxemburg-Platz gezeigt wurde, sehr gut zusammen.
Künstlerisch eigentlich ein starkes Statement gegenüber der Gegenwart, ihrer Produktion von Aufgeregtheit, dem Hunger nach Aufmerksamkeit, der schnell durch das Dorf gejagten Sau. All das ist hier nicht zu finden. Wäre diese Kunst eingewoben in einen dichten Spielplan, fänden sich neben ihr auch andere Töne, dem Programm wäre Lob sicher. Aber das ist eine müßige Überlegung. Denn genau dieses „neben“ existiert nicht, dafür viele Schließtage.
Was aber gezeigt wurde, ist teils von großem Charme und wirbt um die Zuschauer mit Zuneigung. Das gilt für das Fest am Anfang, den Tanz auf dem Tempelhofer Feld, vom Choreografen Boris Charmatz initiiert, mit seinem Ensemble, Gruppen aus der Stadt und dem Publikum. Aus einem ähnlichen Geist gewebt war die letzte Premiere kurz vor Weihnachten, „The Show must go on“ von Jérôme Bel, ebenfalls französischer Choreograf. Auch dieses Stück kennt zwar keine Stars, aber doch die große Sehnsucht danach und einen anschmiegsamen Umgang damit.
Viel Partystimmung, trotz sparsamer Inszenierung
Ein DJ legt 19 Popsongs auf, meist gefühlvolle, teils sentimentale Hits, und auf der Bühne führen 25 Performer auf, was man eigentlich als privaten Musikgebrauch kennt, den großen Auftritt im eigenen Wohnzimmer, das gedankenverlorene Mitsingen unter Kopfhörern, das Verausgaben in der Disko. Das hat viel von Partystimmung, obwohl die Inszenierung sehr sparsam ist. Einige Lieder werden auch einfach im Dunkeln abgespielt, bei Simon & Garfunkels „Sounds of Silence“ summt und brummt das Publikum schließlich mit.
Gut kam das an, bei einem Publikum, gemischt aus jungen Leuten, alten Volksbühnengängern, für die Jérôme Bel möglicherweise neu war, und denen, die wussten, ja, aber das Stück ist über 15 Jahre alt und schon durch mehr als 30 Städte getourt. Ausgeführt aber jeweils von einer anderen Mannschaft, vor Ort eingesammelten Laien, oft Mitarbeitern des Hauses.
Deutlich erkennbar ist der Gedanke, mit diesem Konzeptstück um das Haus selbst, beziehungsweise seinen alten Stamm der vielen Mitarbeiter zu werben und nach außen Versöhnung zwischen Volksbühne alt und neu auszustrahlen; aufgegangen ist das nicht ganz. Viele der Performer waren eher Amateure und Halbprofis, befreundet mit jemand, der Abenddienst oder Kasse macht. In ihrer Unterschiedlichkeit sind sie trotzdem eine starke Mannschaft.
Bels Stück arbeitet mit einfachen Mitteln an dem Ausloten der Beziehungen zwischen Identität und Popkultur, vom Finden des Selbst über das Messen an den großen Gefühlsgesten im kollektiven Gedächtnis. Mit dem Zitat, mit der Matrix dessen, was im kulturellen Gedächtnis liegt, hatten auch die Performances der dänischen Choreografin Mette Ingvartsen, die sich auf Sexualität und Pornografie bezog, und das Stück von Susanne Kennedy zu tun, das sich um Krankheit und die Reduktion auf das Leben als Kunde in einer verkaufsfreudigen Gesellschaft drehte.
Bei beiden Regisseurinnen geht es um den Körper als einen von vielen Vorstellungen (aus Kunst, Trash, Genderkonstruktionen, Sozial- und Sexualgeschichte) besetzten und geprägten Ort. Beide benutzen Masken, hinter denen die Darsteller verschwinden und unter denen die Austauschbarkeit der Geschichten ihren Ausgangspunkt nimmt. Ihre Tänzer und Schauspieler sind Profis, deren Gesichter man nicht kennenlernt.
Die künstlerischen Konzepte kommen ohne Ensemble aus
So rund das Konzept in dieser ersten halben Spielzeit unter der Leitung von Chris Dercon und Marietta Piekenbrock inhaltlich ist, wird eines auch deutlich: Diese künstlerischen Konzepte kommen ohne ein Ensemble aus. Auch wenn die Stücke zum wiederaufgeführten Repertoire werden und damit etwas anderes als einen Gastspielbetrieb darstellen, so sind die ausführenden Künstler für jede Produktion andere. Das ist teuer – aber die Volksbühne hat dafür die Mittel.
So wie sie jetzt agieren können, ist ein Luxus unter den Berliner Theatern. Vielleicht auch eine Verschwendung, weil bisher nicht ersichtlich wird, mit was der große Apparat der Gewerke, Bühnenbauer, Techniker, Kostümbildner, dessen Erhaltung hoch und heilig versprochen wurde, jetzt eigentlich beschäftigt ist, bei der oft minimalistischen Ausstattung der Bühne.
„Nur über meine Leiche“ stand auf kleinen Schildern, neben denen junge Leute auf den Stufen vor der Volksbühne lagen, als es zu „The Show must go on“ ging. Die Besetzer der Volksbühne, die im September eine Woche lang das Theater zu einem Symbol für verfehlte Stadtpolitik und Konsum statt Teilhabe machten, sind weiter vor dem Haus aktiv. Sie haben ebenso wenig aufgegeben wie eine zweite Gruppe von Protestierern, die Anfang Dezember wieder eine Petition mit mehr als 40.000 Unterschriften im Berliner Abgeordnetenhaus einreichten.
Die fordern die politisch Verantwortlichen darin zur Prüfung der Wirtschaftlichkeit auf und resümieren: „Die Volksbühne erhält mit Subventionen von 20 Millionen Euro in diesem Haushaltsjahr die zweithöchsten Zuwendungen aller Sprechtheater Berlins. Gleichzeitig ist sie seit Beginn der Spielzeit unter den professionell betriebenen Theatern das Haus, das mit Abstand die wenigsten Vorstellungen der großen Bühne zeigt.“
Viel Geld für so wenig aufwendig erscheinende Kunst
Das heißt, Chris Dercon, der erst unter den Verdacht gestellt wurde, Speerspitze eines Neoliberalismus zu sein, wird jetzt vorgeworfen, so viel Geld für so wenig aufwendig erscheinende Kunst zur Verfügung zu haben. Bei einer Diskussionsrunde in der Akademie der Künste Anfang Dezember, „Was ist Ensemble-Theater?“, ließen denn auch Shermin Langhoff, Intendantin des Maxim Gorki Theaters, und Ulrich Khuon, der das Deutsche Theater leitet, die beide täglich spielen, oft auf zwei Bühnen, ihren Ärger aus.
Falsch gespielt hat in ihren Augen nicht nur die neue Intendanz, indem sie den Aufbau eines Ensembles noch immer als Ziel benennt, das nur jetzt noch nicht zu realisieren sei, sondern auch die Kulturpolitik, die das mitgetragen hat. Tim Renner, Kulturstaatssekretär 2015, der Dercon berufen hat, ist nicht mehr im Amt. Michael Müller, damals auch Kultursenator und immer noch Bürgermeister, äußert sich in der Sache nicht, wie die KollegInnen von nachtkritik.de bei ihren Nachfragen erfahren haben. Vorgeworfen wird Intendanz und Politikern, einen Systemwechsel zu verschleiern, statt offen dazu zu stehen, dass sie eben etwas anderes wollen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
„Nur eine tote Volksbühne ist eine gute Volksbühne“, orakelte Frank Castorf, der seine letzte Premiere, „Les Misérables“, am Berliner Ensemble zeigte, zu aller Verblüffung in einem Pressegespräch, nachdem er dem neuen Leitungsteam der Volksbühne Versagen vorgeworfen hatte. Wie das gemeint sei, wollte man wissen: Nun, für die anderen Theater der Stadt seien die vielen theaterfreien Abende an der Volksbühne gewiss ein Gewinn.
Das stimmt sicher, zumal nicht nur Castorf selbst, sondern auch andere Regisseure, die an seiner Volksbühne inszenierten, an anderen Häusern weiterarbeiten. Das schönste Stück, das Herbert Fritsch dort inszenierte, „der die mann“ nach den hochgradig komischen Texten von Konrad Bayer, wandert gar als komplette Inszenierung an die Schaubühne, Premiere Ende Januar 2018.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!