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Für diekleinen Brüder

Neukölln will mit einem neuen Programm verhindern, dass Jugendliche Intensivtäter werden

Von Malene Gürgen

Wenn es um Jugendkriminalität geht, steht Neukölln wie kein anderer Bezirk im Fokus: Gewalttätige Gangs, arabische Großfamilien, unkontrollierte Schulhöfe sind die Bausteine der ewig gleichen Gruselgeschichten. Die Zahlen zeigen indes, dass das Problem in den vergangenen Jahren deutlich kleiner geworden ist: Waren 2010 149 Jugendliche im Bezirk als Intensiv- oder Schwellentäter erfasst, sind es heute noch 45. Dazu kommen 14 sogenannte kiezorientierte Mehrfachtäter, die bisher nur mit kleineren Delikten aufgefallen sind.

Insbesondere die letzte Gruppe, aber auch all jene, deren Handeln noch unterhalb der Schwelle zur statistischen Erfassung liegt, will der Bezirk nun verstärkt in den Blick nehmen. Dafür nimmt in dieser Woche die Arbeitsgruppe Kinder- und Jugendkriminalität ihre Arbeit auf, die in Zusammenarbeit mit betroffenen Familien und durch enge Kooperation verschiedener Behörden die Zahl der Mehrfachtäter langfristig weiter senken soll. „Es sind weniger die Intensivtäter selbst, die wir damit in den Blick nehmen, sondern deren kleine Brüder“, sagt Jugendstadtrat Falko Liecke (CDU). Bei etwa fünf bis zehn Prozent der straffällig gewordenen Jugendlichen im Bezirk sei eine weitere kriminelle Karriere wahrscheinlich. An sie richte sich das Programm.

Entbindung von der Schweigepflicht

In der Arbeitsgruppe sitzen VertreterInnen des Bezirksamts, der Senatsverwaltung für Bildung, der Staatsanwaltschaft, der Polizei, der Jugendberufsagentur und des Amtsgerichts. Außerdem wurden drei neue Stellen für Sozialarbeiter geschaffen, deren Aufgabe es ist, die betroffenen Familien aufzusuchen. Ein Ziel ist dabei eine Einverständniserklärung der Eltern zu bekommen, die die Behörden von ihrer Schweigepflicht entbindet. So sollen Daten zu den Kindern und Jugendlichen behördenübergreifend gespeichert und ausgewertet werden.

Das Projekt hat einen langen Vorlauf, vor allem die Besetzung der Sozialarbeiterstellen habe gedauert, heißt es aus dem Bezirksamt. Sie sollten mit Leuten besetzt werden, die in den migrantischen Communities verankert und respektiert seien – dort würden bisherige Präventionsmaßnahmen oft schlecht greifen. Mittlerweile habe die Arbeitsgruppe in 28 Familien mit der Arbeit begonnen, in allen Fällen sei die Einverständniserklärung unterzeichnet worden. Angelehnt ist das Projekt an das Konzept der 2010 verstorbenen Jugendrichterin Kirsten Heisig, die unter dem Stichwort „Neuköllner Modell“ eine schnellere Verurteilung jugendlicher Straftäter sowie eine engere Kooperation der Behörden eingeführt hatte – die bundesweite Aufmerksamkeit dafür war allerdings weitaus größer als der tatsächliche Effekt.

Mit den neuen Maßnahmen soll nun nachgebessert werden. Dass der Bezirk dabei auch vor diskussionswürdigen Ideen nicht zurückschreckt, zeigen die veröffentlichten Fallbeispiele: So sollte ein Jugendlicher an der Schwelle zum Intensivtäter für ein Jahr zu Verwandten in den Libanon geschickt werden – nach drei Monaten war er zurück und fest entschlossen, künftig keine Straftaten mehr zu begehen, meldet der Bezirk erfreut.

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