Debütroman aus Belgien: „Es hängt etwas Dunkles darüber“
„Und es schmilzt“ ist eine dunkle Dorfgeschichte aus Belgien. Lize Spit erzählt von ländlichem Alkoholismus und druckvoller Jugenderotik.
taz am wochenende: Ein flämischer Roman aus Belgien, der auch die Niederlande im Sturm erobert – das kommt nicht oft vor. Wie erklären Sie sich diesen Erfolg?
Lize Spit: Es stecken wohl ein paar Themen in dem Buch, die vielen Menschen vertraut sind. Meine Hauptfigur Eva hat zum Beispiel alkoholkranke Eltern. Auch die Enge in einem Dorf kennen viele Leute, ebenso die Einsamkeit in der Pubertät.
Die Geschichte spielt in einem flämischen Dorf. Im Zentrum stehen Eva und ihre beiden besten Freunde Pim vom Bauernhof und Laurens, dessen Eltern eine Schlachterei haben. Pims Bruder hat Selbstmord begangen, was vertuscht wird. Inwiefern erzählen Sie eine typisch flämische Geschichte?
Flamen sagen oft nicht, was wirklich los ist. Sie sitzen zusammen am Tisch, und es hat den Anschein, ein Elefant stünde daneben. Jeder weiß es, aber niemand spricht es aus. Deswegen hat der Roman in Flandern einen noch größeren Erfolg als in den Niederlanden. Die Niederländer reden viel freier heraus als wir. In meinem Roman passiert so viel Furchtbares, doch niemand greift ein. Für manche mag das übertrieben wirken, aber Flamen können das gut verstehen.
War Ihr Roman direkt ein Erfolg oder wie wurde er zum Bestseller?
Das ging sehr schnell. Einen Tag bevor der Roman erschien, stand bereits eine Rezension in De Standaard, einer der größten belgischen Tageszeitungen. Die andere große Zeitung, De Morgen, zog gleich nach. Dann kam das Fernsehen. Vom ersten Verkaufstag an erging es meinem Roman wie einem Schneeball, der einen Berg runterrollt und immer dicker wird. Nach einer Woche musste bereits nachgedruckt werden.
geboren 1988 in Viersel, wuchs in der Region Kempen in Belgien auf. Studierte Szenisches Schreiben, lebt in Brüssel und schreibt auf Flämisch. Ihr 480-seitiger Debütroman "Het smelt" erschien 2016 in Belgien und den Niederlanden, verkaufte über 160.000 Exemplare. Er stand ein Jahr lang auf Platz 1 der belgischen Bestsellerliste.
"Und es schmilzt" ist in der deutschen Übersetzung von Helga van Beuningen im S.Fischer Verlag erschienen. Hardcover, 512 Seiten, 22 Euro
Wie gingen Sie mit dem plötzlichen Ruhm um?
Auf einmal war ich eine öffentliche Person. Das hatte ich überhaupt nicht erwartet. Vielleicht liegt es daran, dass der Roman so dunkel und grausam ist und dass ich selbst eher süß aussehe. Ich trage gerne Kleidung mit aufgedruckten Tierchen und niedliche Broschen. Das passte für die Leute irgendwie nicht zusammen. Manche Journalisten fragten mich sogar, welches Shampoo ich verwende.
Ist das nicht unangenehm?
Doch, sehr. Es haben sich auch Sponsoren bei mir gemeldet, die mich in Kleider von bestimmten Marken stecken wollten. Und eine Biermarke wollte mich für Bierreklame engagieren. Viel schlimmer aber war es, dass Journalisten auch in mein Heimatdorf geschickt wurden. Schnell war ja klar, dass der Ort, den ich im Roman Bovenmeer nenne, meinem Heimatdorf in der Gemeinde Zandhoven nachgebildet ist. Die Journalisten sind mit Kameras in das Dorf gekommen, haben bei den Leuten geklingelt und gefragt, welche Szenen in meinem Roman tatsächlich so passiert sind. Sie haben alles abfotografiert: Pims Bauernhof oder den See, in dem die Kinder im Roman schwimmen gehen.
Wie hat man in Ihrem Dorf auf den Roman und den Rummel darum reagiert?
Gemischt. Aber viele sind auch stolz darauf, dass das Dorf Schauplatz eines Romans wurde. Die Bibliothek der Gemeinde Zandhoven besitzt zehn Exemplare meines Romans, und die sind bis auf den heutigen Tag permanent ausgeliehen. Ich gehe also mal davon aus, dass hier bald wirklich jeder meinen Roman gelesen hat.
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Ihr Buch wirkt aufgrund seiner Düsterkeit selbst wie die Rache am eigenen Dorf. Können Sie trotzdem noch zu Besuch zurückkehren?
Ja, das kann ich.
Sie hatten bereits ein paar Kurzgeschichten veröffentlicht, bevor Sie sich an die Arbeit von „Und es schmilzt“ machten. Woher kam die Grundidee?
Ich wollte von Anfang an einen Roman über jemanden schreiben, der durch seine Freunde total erniedrigt wird. Zunächst sollte das allerdings ein Junge sein, der sich als Mann später rächt. Bald merkte ich aber, dass ich das nicht konnte. Ich habe nie im Körper eines pubertierenden Jungen gesteckt. Dann habe ich den Jungen in ein Mädchen umgeformt. So entstand Eva. Die sollte anfangs aber noch 40 oder 50 Jahre alt sein, als sie Rache nimmt. Das aber passte auch wieder nicht in meinen Erfahrungsraum. Ich weiß ja nur, wie man in den 1990er Jahren aufwuchs. Wir hatten damals so kleine Kipling-Äffchen am Schulranzen hängen, und wir trugen dehnbare Halsketten, die wie Tattoos aussahen. So was kann ich gut beschreiben. Deswegen ist Eva nun so alt wie ich selbst.
Und die Rache-Idee war der Ausgangspunkt?
Ja. Auf der einen Seite steht Evas Rache dafür, dass ihre beiden Freunde Pim und Laurens sie als 14-Jährige schlimm erniedrigt haben. Aber auf der anderen Seite wollte ich auch Evas liebevolles Verhältnis zu ihrer kleinen Schwester Tesje beschreiben.
Tesje ist ein sehr sensibles Kind und bildet in der Alkoholikerfamilie, in der sie zusammen mit Eva aufwächst, schwere Zwangsneurosen aus.
Das erste Kapitel, das ich schrieb, war die Szene, in der Tesje Läuse hat und ihr zu Hause deshalb der Kopf mit Mayonnaise vollgeschmiert wird. Da merkte ich, dass ich auch Evas Familie mehr Form geben musste, nicht nur den Freunden. So wurde das Buch vielschichtiger. Und für mich natürlich auch sehr persönlich, da ich einige meiner Erfahrungen darin verarbeitet habe.
Die Geschichte steckt voll psychischer, aber auch körperlicher Gewalt. Empfinden Sie ihn selbst auch als dunkel?
Ja, das erschreckt mich manchmal selbst. Während des Schreibens war ich so konzentriert, dass ich das gar nicht gemerkt habe. Es hängt etwas Dunkles über dieser Erzählung. Das ist eine Kraft, die in mir steckt. Die zieht auch jetzt an mir, da ich an meinem zweiten Roman arbeite.
Haben Sie keine Angst, nun ein zweites Buch zu schreiben, auf das zumindest schon ganz Flandern wartet?
Ich fühle schon einen großen Druck auf mir lasten. Ich muss mir auch selbst beweisen, dass ich noch mehr schreiben kann. Erst wenn ich jetzt den zweiten Roman vorlege, weiß ich, dass ich wirklich Schriftstellerin bin. Wenn das nicht klappt, dann bleibe ich bloß die Autorin eines einzigen Buches.
Eva geht schließlich zum Studieren nach Brüssel. Darin folgt sie Ihnen, die Sie in Brüssel Szenisches Schreiben studiert haben und dort noch immer leben.
Ich habe Eva nach Brüssel ziehen lassen, weil ich Brüssel sehr gut kenne. Außerdem ist Brüssel eine etwas heruntergekommene Stadt; das passt zu Eva, die emotional ebenfalls verwahrlost ist. Trotzdem habe ich ihre Umgebung in dem Roman nicht weiter ausgearbeitet. Die Stadt ist also eigentlich austauschbar. Ich habe das bewusst so gemacht und wollte mir Brüssel noch ein bisschen aufsparen. Eben für spätere Erzählungen, die nun folgen.
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