piwik no script img

Berliner Staatsoper während der NS-ZeitVersteckt zum Opernfreund geworden

Die Staatsoper in Berlin ist wieder offen. Hier suchten in der Nazizeit verfolgte Juden Zuflucht, so wie Walter Frankenstein.

In der Staatsoper glaubte sich Walter Frankenstein sicher vor seinen Häschern (Archivfoto, 2015) Foto: Karsten Thielker

Das abgegriffene Notizbuch mit linierten Seiten ist fast vollständig mit handschriftlichen Notizen gefüllt. Unter dem Datum des 23. Juni steht da: „Staatsoper. ‚Tristan und Isolde‘. Dirigent: Furtwängler“.

Die Einträge stammen aus dem Kriegsjahr 1944, und der junge Mann, der die Notizen schrieb, war damals nicht ganz freiwillig regelmäßiger Besucher der Staatsoper Unter den Linden. Walter Frankenstein ist heute 93 Jahre alt.

Erst vor ein paar Tagen, bei einem seiner Besuche in der alten Heimat, hat er davon gehört, dass in der Staatsoper nach langer Renovierungspause endlich wieder gespielt wird. Das hat ihn sehr gefreut. „Da wäre ich gerne dabei gewesen“, sagt er über das Eröffnungskonzert, bei dem am Tag der Deutschen Einheit Szenen aus Goethes Faust, zu denen Robert Schumann die Musik schrieb, gezeigt wurden.

Die Erinnerungen, die Frankenstein an die Staatsoper hat, sind etwas anders als die der üblichen Opernhausbesucher. Denn Frankenstein ist Jude. Damals, 1944, lebte er untergetaucht in Berlin, gesucht von Gestapo und Spitzeln. Sein sicheres Versteck in der Königsallee 44 in Grunewald, wo ihn monatelang ein hilfreicher christlicher Chemiker verborgen hielt, war im Februar durch eine Fliegerbombe zerstört worden. Ein anderes Versteck aber besaß Walter Frankenstein nicht. Er übernachtete auf Trümmergrundstücken oder wo sich sonst noch eine Gelegenheit bot.

Bei Wagner Schlaf nachholen

So kam es, dass der hochgewachsene, schlanke junge Mann auf die Idee verfiel, die Theater-, Konzert- und Opernhäuser der Stadt zu nutzen, um sich auszuruhen und ein bisschen Schlaf nachzuholen. Dort lief selbst im fünften Kriegsjahr noch nahezu das volle Programm; die „Volksgenossen“ sollten nach dem Willen von Propagandaminister Joseph Goebbels weiterhin Gelegenheit erhalten, sich bei Kunst und Kultur von der tristen Gegenwart mit ihren Bombennächten abzulenken. Von Juden komponierte Stücke waren freilich streng verboten, auch „artfremde Musik“ wie Jazz war nicht zugelassen.

Aber was kümmerte das einen gesuchten Juden auf der Flucht? Frankenstein besuchte das Schauspielhaus und das Deutsche Theater, er verschlief Aufführungen im Theater am Schiffbauerdamm wie die Stücke in der Deutschen Oper. Vor allem aber zog es ihn immer wieder in die Staatsoper, die erst im Dezember 1942 nach schweren Kriegsschäden wiedereröffnet worden war. „Ich habe einmal die ganzen ‚Meistersinger‘ verschlafen“, erinnert er sich. Die Spieldauer von Richard Wagners Oper beträgt immerhin fünf Stunden.

Hier, selbstverständlich auf den billigsten Plätzen ganz oben im Saal, glaubte sich Walter Frankenstein sicher vor seinen Häschern. „Ich war gar nicht nervös“, sagt er heute.

Spitzel unter den Besuchern

Was er nicht wusste: Gerade die Staatsoper zählte zu den Häusern, die von der Gestapo streng überwacht wurden. Jüdische Spitzel, „Greifer“ genannt und von den Nazis mit Todesdrohungen zum Dienst gepresst, gingen dort ein und aus, suchten nach den „U-Booten“, wie sich die untergetauchten Juden selbst nannten. Unter den Spitzeln befand sich neben Stella Kübler, das „blonde Gift“ genannt, auch Günther Abrahamsohn, ein alter Bekannter von Frankenstein. „Der hätte mich bestimmt erkannt“, ist sich Frankenstein sicher. „Festhalten, Jude!“ rief Stella Kübler, als sie am 16. Dezember 1943 den untergetauchten Moritz Zajdmann mitsamt seiner Familie erwischte. Passanten ergriffen Moritz, den Rest besorgte die Gestapo. Die Familie wurde nach Auschwitz deportiert.

Frankenstein wusste davon nichts. „Ich hatte keine Ahnung. Dort fühlte ich mich sicher, es gab keine Militärpolizei“, sagt er heute. Die Staatsoper Unter den Linden galt als bevorzugtes Haus von Hermann Göring, der dort regelmäßig die Vorstellungen verfolgte. Frankenstein ist sich nicht ganz sicher, ob er einmal nur wenige Meter vom Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe entfernt den Takten des Dirigenten Karajan oder Furtwängler gefolgt ist.

Die Familie Frankenstein

Klaus Hillenbrand schrieb das Buch „Nicht mit uns“, in dem man mehr auch über die Familie Frankenstein lesen kann. Es ist erschienen im Jüdischen Verlag im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008, 251 Seiten, 19,80 Euro. Die renovierte Staatsoper eröffnete am 3. Oktober 2017 wieder.

Frankensteins Notizbuch mit den linierten Seiten und einer schwedischen Deckadresse auf dem Innendeckel liest sich fast wie ein Opernkurzführer: am 6. April Beethovens „Fidelio“, am 7. der „Lohengrin“ von Wagner, am 12. „Orpheus und Euridike“. Für den 21. April 1944 trug Frankenstein die „Entführung aus dem Serail“ von Mozart ein, am 24. tauchte er bei dessen „Hochzeit des Figaro“ in der Staatsoper auf. „Gedankenlos“ sei es gewesen, damals dieses Notizbuch zu führen, meint er.

Der verfolgte Frankenstein, der die Oper ursprünglich nur als praktische Schlafstelle verstanden hatte, entwickelte schon bald ein reges Interesse an Musik und Inszenierung. Die Sopranistin Erna Berger wurde sein Idol, noch heute erinnert er sich an ihren Auftritt als Gilda, der Tochter des Rigoletto, in der Oper von Giuseppe Verdi. Und bis heute liebt Frankenstein die Oper.

Am 5. Oktober 1944 brechen die Eintragungen in Frankensteins Notizbuch mit der „Sinfonie Nr. 8 von Bruckner“ ab. Etwa zur gleichen Zeit fand er ein neues Quartier in Berlin-Wilmersdorf, Emser Straße 16. Seine Retterin trug den Namen Sophie Döring, sie war eine Hausfrau, deren Mann als Soldat in Polen stationiert war.

Heute lebt Walter Frankenstein in Stockholm und inte­res­siert sich lebhaft für die Geschehnisse in Berlin. Er hat von der Anhebung der Saaldecke im Zuge der Renovierung der Staatsoper gehört. „Da soll es ja eine fantasische Akustik geben“, sagt er. Und, ja, eine Einladung zum Besuch würde er gerne annehmen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!