taz-Serie Neu-Berlinern: Die tanzende Ärztin
Nicht nur Künstler zieht's an die Spree: Die niederländische Gynäkologin Emilie Herzog berichtet, was sie nach Berlin verschlug.
Als ich mit Helm und Schlüssel im Hof stehe, wird mir klar, dass ich vielleicht nicht mit diesem Fahrrad zu einem Treffen mit einer niederländischen Gynäkologin kommen sollte. Es ist ein dänisches Rad, und so wie in den Niederlanden auch werden die Kinder in Dänemark quasi mit einem Fahrrad zwischen den Beinen geboren. Aber mein Rad ist 14 Jahre alt, hat 13 Berliner Winter auf dem Buckel, und es knarrt wie ein Gartentor in Brandenburg.
Emilie Herzog – so heißt die Frau, mit der ich mich treffe – hat vorgeschlagen, dass wir uns im A. Horn am Carl-Herz-Ufer in Kreuzberg treffen. Als ich eintreffe, ist sie schon da und auch der Fotograf, der schwer begeistert ist, weil ihre rote Haare so schön zwischen dem Kreuzberger Grün leuchten.
Wir wollen draußen sitzen, obwohl der Sommer zu Ende zu sein scheint. Genau deshalb brauchen wir Stärkung, zwei Cheesecake mit Waldbeeren sollen es sein.
Mehr als 4.500 Geburten pro Jahr
Immer mehr internationale Zuzügler sind in den vergangenen Jahren nach Berlin gekommen. Sei es, weil die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen in ihren Heimatländern nicht mehr stimmen, sei es, weil sie beruflich oder privat an der Spree neu durchstarten wollen. Was suchen und was finden sie in Berlin? Unsere Autorin Henriette Harris, die 2004 aus Kopenhagen nach Berlin kam, stellt die Neuankömmlinge an dieser Stelle einmal im Monat vor.
Vor einem Jahr kam Emilie Herzog, deren Vornamen man mit einer französischen Betonung auf der letzten Silbe ausspricht und die in einem Dorf in der Nähe von Utrecht aufgewachsen ist, nach Berlin. Nach sechs Jahren Medizinstudium und einigen Jahren als Ph.D. in Rotterdam, hat sich die heute 34-Jährige im Bereich Gynäkologie spezialisiert.
„Gegen Ende des Studiums habe ich ein Praktikum in Berlin gemacht. Ich habe mich schnell zu Hause gefühlt und mich um einen Platz bemüht, um mich zu spezialisieren – zuerst ohne Erfolg. Die Meisten gehen zur Fachausbildung nicht woanders hin, aber ich denke, es ist lehrreich. Die fremde Sprache macht es nicht immer einfach, aber meiner Meinung nach ist das sogar ein Vorteil: Man macht sich mehr Gedanken über die Diagnostik und die Therapie und darüber, wie man es hier und in Holland handhabt.“
Ein Beispiel für die Unterschiede zwischen den benachbarten Ländern? „In Holland gibt es viele Hausgeburten. Die Hebammen haben meistens eine eigene Praxis, sie betreuen die komplikationslosen Schwangerschaften selbstständig. Die Zusammenarbeit zwischen den Hebammen und den Gynäkologen ist trotzdem nicht optimal.“
Mehr als 4.500 Geburten pro Jahr
Ob die Organisation in Deutschland reibungsloser sei, könne sie noch nicht einschätzen, aber „die Kooperation zwischen Frauenärzten und Hebammen finde ich besser“. Herzog arbeitet jetzt im St.-Joseph-Krankenhaus in Berlin-Tempelhof. Gut 4.500 Geburten pro Jahr gibt es dort. „Die allermeisten in Deutschland“, erzählt sie stolz. Ist die Stimmung im St. Joseph deshalb so gut? Jedenfalls erzählt Herzog: „Die Atmosphäre im Krankenhaus ist lockerer als in Holland.“
Dabei wollte Emilie Herzog eigentlich mal ganz woanders hin: Sie wollte Tänzerin werden, beim Ballett groß rauskommen. Als 13-Jährige hat sie angefangen im nächsten Dorf zu tanzen. Ihr Dorf war zu klein für so etwas, dort hatte man nur Turnen im Angebot.
„Ich habe in meinem Abiturjahr die professionelle Vorausbildung an der Ballettakademie in Rotterdam besucht. Dann habe ich zwei Jahre in Amsterdam an der Tanzakademie getanzt, aber ich dachte: Ich bin nicht nur Tänzerin. Ich brauchte was für meinen Kopf.“ Sie fing an, Italienisch zu lernen, aber offenbar reichte das ihrem Kopf noch nicht: Sie gab das Tanzen auf und fing an, Medizin zu studieren.
„Andererseits bin ich auch nicht nur Ärztin. Ich habe das Tanzen nicht ganz aufgegeben. In meiner Studienzeit habe ich in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen war, eine Tanz- und Ballettschule gegründet. Da habe ich jedes Wochenende Kinder unterrichtet. Die Schule gibt es noch immer.“
Vor dem Kuchen hockend, fällt ihr ein, dass sie an diesem ersten Septembertag exakt seit einem Jahr an der Spree ist. Das Wetter war damals besser – wir feiern ihr erstes Jubiläum in Berlin damit, dass wir uns ins Café setzen, um nicht zu frieren.
Und wenn die Spezialisierung zur Gynäkologin durch ist, was wird dann mit ihr? „Am liebsten würde ich Berlin nie mehr verlassen. Jeder, den man hier trifft, hat seine eigene Geschichte. Alle sind auf der Suche. Die Atmosphäre ist so angenehm. Ich denke, alle sind hier so, wie sie sein möchten. Erst mal bin ich froh, dass ich noch eine lange Zeit in Berlin vor mir habe.“
Zeitreise in Clärchens Ballhaus
Den öffentlichen und politischen Ton in Deutschland findet sie moderater und vorsichtiger als in ihrem Heimatland, wo man glaubt, dass Meinungsfreiheit bedeutet, unbedingt alles äußern zu müssen. In Berlin lerne sie mehr als bloß gynäkologisches Fachwissen: „Ich lerne im Krankenhaus auch die Sprache und die Kultur kennen.“
Emilie Herzog wohnt mit ihrem Freund in Kreuzberg zusammen. Er ist auch Holländer und macht im Moment seinen PhD in Philosophie an der Humboldt-Universität. „Wir sind verkuppelt worden“, grinst sie. „Als ich ankam, haben Freunde von mir gesagt: ‚Du musst Frank treffen.‘ Dann haben wir uns getroffen und nach einiger Zeit auch verliebt. Ich wollte in Kreuzberg oder Neukölln leben. Ich mag, dass alles so gemischt ist.“
Die alte Liebe zum Tanzen lebt sie auch in Berlin aus. Herzog findet die Möglichkeiten hervorragend: „In der Tanzfabrik in der Möckernstraße gibt es viele Angebote, auch Profiklassen, aber auch im Dock 11 tanze ich gern. Im Sommer ist es schön im Monbijoupark am Wasser zu tanzen. Donnerstags gibt es immer einen Swingabend in der Villa Neukölln, und mittwochs geht’s oft in Clärchens Ballhaus. Ich liebe das! Ich fühle mich wie 60 Jahre zurückversetzt, es ist wie ein alter Film. Da habe ich dieses Überberlingefühl“, schwärmt sie.
Nur in einer Sache könnte Berlin besser sein. Emilie Herzog fährt gern Rennrad, aber es sei schwierig, auf dem Rad aus der Stadt herauszukommen: Es dauere so lange und sei gefährlich. Ich selbst würde nie in meinem Leben auf ein Rennrad steigen, aber ich höre höflich zu, ohne das Problem so richtig zu verstehen. Aber als wir uns vor dem Café verabschieden, gratuliere ich mir heimlich zu der Entscheidung, mein knarzendes altes Rad zu Hause gelassen zu haben.
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