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Kommentar BriefwahlFreiheit gibt's nur vor der Tür

Kommentar von Richard Rother

In diesem Bundestagswahlkampf werben viele Parteien explizit dafür, die Briefwahl zu nutzen. Das widerspricht dem Gedanken der geheimen Wahl.

So viel zusätzliche Arbeit: Wahlhelfer*innen zählen Briefwahlunterlagen aus Foto: dpa

Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt.“ So steht es im Grundgesetz, Artikel 38. Dass jeder deutsche Staatsbürger sich aussuchen darf, wann und unter welchen Umständen er wählt, steht da nicht. Dennoch machen immer mehr WählerInnen von ihrem Recht auf Briefwahl Gebrauch, und im diesjährigen Wahlkampf haben alle Parteien sogar massiv dafür geworben. Das mag helfen, die Wahlbeteiligung zu erhöhen und ist insofern gut für die Demokratie. Dennoch ist der allgemeine Trend zur Briefwahl gefährlich, denn er widerspricht dem Geist der Wahl.

Klar gibt es gute Gründe für eine Briefwahl: Kranke und Pflegebedürftige wollen oder können nicht ins Wahllokal, ebenso UrlauberInnen. Auch wer nicht an seinem Heimatort arbeitet oder studiert, soll gern die Briefwahl nutzen. Aber sie sollte die Ausnahme sein. Wenn – wie an manchen Orten – bereits jeder Dritte zum Brief greift, stimmt etwas nicht. Viele Wähler tun dies aus reiner Bequemlichkeit, um sich am Wahltag nicht ins Wahllokal aufmachen zu müssen und flexibel zu bleiben. Es könnte ja regnen (oder die Sonne scheinen), es könnten Freunde kommen oder dringende Postings zu erledigen sein.

Diese Herangehensweise ist respektlos, und zwar gegenüber der fest terminierten Wahl und den Tausenden Wahlhelfern in den Wahllokalen. Außerdem: Wer schon Wochen vor der Wahl seine Stimme abgibt, weiß weniger als die Wähler am Wahltag. Innerhalb kurzer Zeit können Dinge geschehen, die das Wahlverhalten beeinflussen: ein gravierender Atomunfall etwa, eine internationale Krise, ein Terroranschlag.

Zur Erinnerung: Ohne Fukushima wäre Winfried Kretschmann (Grüne) sicher nicht baden-württembergischer Ministerpräsident geworden, was noch heute Einfluss auf die Politik in seiner Partei und in Deutschland hat. Niemand kann zudem garantieren, dass alle Briefwähler wirklich frei abstimmen. Es könnte ja sein, dass ein Ehemann seine Frau mit Gewalt zu einem bestimmten Votum zwingt. In der Wahlkabine hingegen ist jeder Wähler und jede Wählerin allein, und die Wahl ist frei und geheim. Das sollte die Regel bleiben.

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Redakteur für Wirtschaft und Umwelt
Geboren 1969 in Ost-Berlin. Studium an der FU Berlin. Bei der taz seit 1999, zunächst im Berliner Lokalteil. Schwerpunkte sind Verkehrs- und Unternehmenspolitik.
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15 Kommentare

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  • "Es könnte ja sein, dass ein Ehemann seine Frau mit Gewalt zu einem bestimmten Votum zwingt."

     

    Es könnte ebenfalls sein, dass eine Frau ihren Partner mit Nötigung zu einem bestimmten Votum zwingt. Huch, war das jetzt sexistisch? Dann war aber Ihre Behauptung...

  • Oha der Geist der Weihnacht ...

  • Geheim gilt nur für mich. Keiner soll mich beeinflussen, wen und warum eine Partei wähle. Ich bin der Souverän und habe die Absicht die Besten, aus meiner Sicht, zu meinem Vertreter zu wählen.

    „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt.“

    Dafür muss ich die Kandidaten auch einigermaßen kennen! Bei der Briefwahl erhält man den Stimmzettel vorher mit den Namen der Kandidaten. Das bietet mir die Möglichkeit vorher zu prüfen wer ist der einzelne Kandidat in meinem Wahlkreis und die 6 Kandidaten auf der Landesliste. So kann ich vorher überprüfen, was die Kandidaten gelernt haben und was sie können (Digital)! Soviel Zeit nehme ich mir!

    Jeder Kandidat erhält, falls er/sie gewählt wird ein bedingungsloses Grundeinkommen (Diäten) von monatlich 9.541,74 Euro plus Spesen und ein geheiztes Büro etc. Das soll ihre "Unabhängigkeit sicherstellen. Eine Verdienst- Ausfall Entschädigung. Deshalb finden wir auch viele junge neue Kandidaten?

    Frage für mich: Sind das die Besten?

    Falls nicht, kommen sonst die Demagogen an die Macht (Aristoteles Politik 4. Buch, 4.Kapitel 1297a7)

  • 8G
    83379 (Profil gelöscht)

    Ich habe auch per Briefwahl gewählt fast einen Monat vor der Bundestagswahl. Was soll ich den weniger wissen als die Leute vor der Wahl? Gibt einen Terroranschlag und dann finde ich plötzlich die AFD besser? Ich finde Leute die ihre Entscheidung erst in der Wahlkabine treffen viel suspekter. Leute die sich von Ereignissen kurz vor der Wahl beeinflußen tendieren zu extremen Positionen.

  • Sind in diesen 1/3 auch die "Briefwähler" dabei, welche ins Wahlamt gehen und dort direkt wählen? Das ist ja offiziell auch eine Briefwahl.

    Jetzt wäre doch interessant, wie viele Bürger das machen.

  • Selten so viel Unsinn auf einem Haufen gelesen. Wer am Wahltag - aus welchem Grund auch immer -verhindert ist, kann auf Antrag per Brief wählen. Punkt.

    Er kann dies theoretisch und praktisch genauso frei und geheim tun, wie jeder andere Wähler auch. Seine Stimme zählt nicht mehr und nicht weniger.

    Mit dem Wahlschein ist darüberhinaus vom Wähler immer auch eine eidestattliche Versicherung abzugeben, dass die Stimmabgabe tatsächlich dem persönlichen Willen des Wahlberechtigten entspricht.

    • @Rainer B.:

      Wer kontrolliert das? Im Wahllokal sitzt ein Wahlvorstand, ein Schriftführer und ein Beisitzer die strikt auf die Durchführung der allgemeinen, freien und geheimen Wahl durch den Wahlberechtigten höchstpersönlich achten.

      Bei Briefwahl ist das alles nicht bzw. nur sehr aufwändig kontrollierbar, man kann mit etwas krimineller Energie fälschen, Tricksen und betrügen, oder auch nötigen und drängen, z.B. alte und gebrechliche Menschen, oder auch Ehegatten und wahlberechtigte Kinder.

      Briefwahl muss die Ausnahme bleiben, ansonsten ist eine demokratische Wahl latent gefährdet.

      • @Ulli Z:

        Die Stimmen der Briefwähler werden wie die anderen am Wahltag, jedoch erst nach 18 Uhr ausgezählt. Die Kontrolle bzw die Möglichkeiten zum Wahlbetrug sind in beiden Fällen gleich. Nennenswerte Unregelmäßigkeiten fallen praktisch immer auf. In diesen Fällen wird nochmal ausgezählt und ggf.auch in dem oder den betreffenden Wahlbezirken erneut gewählt.

  • "Diese Herangehensweise ist respektlos, und zwar gegenüber der fest terminierten Wahl und den Tausenden Wahlhelfern in den Wahllokalen."

     

    Also soll man ins Wahllokal gehen, damit noch mehr Wahlhelfer gebraucht werden? Hä? Ein Lehrer würde "Sinnzusammenhang" anmerken. Und ist 14 Tage vorher zu wählen wirklich respektlos? Weil man von "Onkel Schulz" bei Anne Will nicht mehr umgestimmt werden kann?

     

    "Außerdem: Wer schon Wochen vor der Wahl seine Stimme abgibt, weiß weniger als die Wähler am Wahltag."

     

    Ist die Hysterie, die durch ein einzelnes Ereignis ausgelöst wird, besser, als vier Jahre lang die Politik zu beobachten? Klar, dass die taz die Hysterie um Fukushima gut heißt. Wäre die Begeisterung für +10% AfD durch einen Terroranschlag ähnlich hoch? 3-4 Wochen vor der Wahl entscheiden höchstens noch Emotionen. Ob die besser sind als rationale Wahlentscheidungen, sei mal dahingestellt.

     

    "Niemand kann zudem garantieren, dass alle Briefwähler wirklich frei abstimmen."

    Sagen wir, die Briefwahlquote läge bei 5%. Würde das die Ehefrau davon abhalten, ihrn Mann zur Briefwahl zu zwingen? Nein? Aha.

    • @unbekannter_nutzer:

      ich fand es auch sehr amüsant dass es der Redakteur gutheißt wenn man eine Woche vorher spontan irgendwas anderes wählt, als eine Woche später

  • 5G
    571 (Profil gelöscht)

    Ach, Herrjeh!

     

    Könnte doch auch sein, dass ich zwischen Briefwahl und Wahltermin sterbe.

    Was dann?

     

    Respektlosigkeit gegenüber wasweißich kann ich beim besten Willen nicht erkennen...

    • @571 (Profil gelöscht):

      Dann wäre Ihre Stimme ohnehin ungültig und dürfte nicht mehr mitgezählt werden. Fragt sich, ob und wie oft das schon mal vorgekommen ist. Aber hoffentlich bleiben Sie uns noch für viele weitere Wahlen erhalten.

      • 5G
        571 (Profil gelöscht)
        @Burgerman:

        "Hoffentlich", danke, schon okay.

        Allzuviele dürften es aber nicht mehr werden...

    • 3G
      39167 (Profil gelöscht)
      @571 (Profil gelöscht):

      Wenn Sie zwischen Briefwahl und Wahltermin sterben, was ich nicht hoffe, ist Ihre Stimme dann noch gültig?

       

      Geheime Wahl? So ganz stimmt das nicht oder?

      Jeder der ins Wahllokal geht, wird dort als Wählender abgehakt. Übrig bleiben die Namen derer, die nicht zur Wahl gegangen sind. Diese Namen und ihre Nichtwahlentscheidung sind nicht geheim.

  • ich weiß weniger als andere weil ich ein paar Tage vorher wähle????

    Also Fr. Merkel, die CDU und SPD habe ich nun 4 Jahre erleben dürfen... sämtliche Gesetze und Entscheidungen, von TTIP über Kriegseinsätze bis zur Rente und Diesel sind doch jedem präsent. Das sollte doch etwas schwerer wiegen als 4 Tage hohle Versprechungen im Wahlkampf.

    Frei und geheim - das verstehe ich. Aber dann müsste man auch den Rentnern, die den Stift nicht mehr halten können das Wählen verbieten... die Briefwahl ist da doch eher ein kleines Problem.