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Kommentar EU-Beitritt der TürkeiEin Wahlgeschenk für Erdoğan

Pascal Beucker
Kommentar von Pascal Beucker

Schulz' Idee, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abzubrechen, ist billiger Populismus. Und: Sie spielt den Falschen in die Hände.

Könnte die EU zum Sündenbock seiner Abkehr von Europa machen: Recep Tayyip Erdoğan Foto: reuters

D as war also der große Coup, den sich Martin Schulz für das TV-Duell bereitgelegt hatte: Der SPD-Kanzlerkandidat will den Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Was für eine mutige Forderung! Der traut sich was, oder? Immerhin ist es ihm damit gelungen, Angela Merkel für einen kurzen Augenblick aus der Fassung zu bringen. Allerdings nicht nur sie. Denn Schulz’ markiger Auftritt steht nicht nur in eindeutigem Widerspruch zu den bisherigen Grundpositionen der SPD und zu ihrem aktuellen Wahlprogramm, er ist auch billiger Populismus.

Schulz bedient den deutschen Stammtisch. Er spielt jenen in die Hände, die schon immer gegen einen EU-Beitritt der Türkei waren – egal wer gerade in Ankara regiert. Damit verrät er Millionen Menschen am Bosporus, die unter schwersten Bedingungen weiterhin für demokratische Verhältnisse kämpfen. Denn ihr Kampf war stets mit der europäischen Perspektive verknüpft. Schon bisher litten sie unter der fehlenden Ernsthaftigkeit, mit der die EU verhandelt hat. Zu Recht hat die SPD – ebenso wie Grüne und Linkspartei – in der Vergangenheit diese fatale Politik immer wieder angeprangert.

Der Abbruch der Verhandlungen durch die EU würde nur einem nutzen: Recep Tayyip Erdoğan. Denn dann kann der Autokrat auch noch die EU zum Sündenbock für die von ihm ohnehin angestrebte Abkehr von Europa machen. Diesen Gefallen wollte ihm die SPD bislang verweigern. Das gilt jetzt nicht mehr – aus durchschaubaren wahlkampftaktischen Gründen. Ein mieses Spiel. Schulz hätte den türkischen Demokraten Mut machen müssen, er hat das Gegenteil getan.

Auffällig ist zudem, worüber der SPD-Kanzlerkandidat nicht gesprochen hat. Stopp der Rüstungslieferungen? Verweigerung von Hermesbürgschaften? Eine Reisewarnung? Kein Wort davon. Offenbar sind dem SPD-Kanzlerkandidaten die Interessen der deutschen Wirtschaft wichtiger, als wirksam ökonomischen Druck auf Erdoğan auszuüben. Für die deutschen Staatsangehörigen, die Erdoğan in Geiselhaft genommen hat, ist das eine schlechte Nachricht. Dass Schulz auch noch erklärte, das unsägliche Flüchtlingsabkommen mit der Türkei „auf keinen Fall“ aufkündigen zu wollen, passt nur allzu gut ins zynische Bild. Ein sozialdemokratisches Trauerspiel.

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Pascal Beucker
Inlandsredakteur
Jahrgang 1966. Arbeitet seit 2014 als Redakteur im Inlandsressort und gehört dem Parlamentsbüro der taz an. Zuvor fünfzehn Jahre taz-Korrespondent in Nordrhein-Westfalen. Seit 2018 im Vorstand der taz-Genossenschaft. Sein neues Buch "Pazifismus - ein Irrweg?" ist gerade im Kohlhammer Verlag erschienen.
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6 Kommentare

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  • Ist Europa denn gut darin, einem anderen Land Demokratie näher zu bringen oder gar zu verordnen? Wie demokratisch ist Europa denn? Also irgendwie ...

  • ....wenn die Türkei zu demokratischen Verhältnissen zurückfindet...

     

    Und weil Erdo das weiß kann er tun und lassen was er will

  • Frau Merkel ließ in der Diskussion raus, dass die CDU schon immer gegen einen EU-Beitritt der Türkei war - Moment der Wahrheit und Schulz schnallt das nicht mal - oder es ist ihm egal. Solange wir Waffen an das Natomitglied Türkei exportieren und dabei gut verdienen, unsere Wirtschaft prachtvolle Geschäfte macht, ist das alles nur Propaganda. Derzeit scheßt Erdoghan auf die EU. Ein Thema wird bei uns nie angesprochen - auch nicht von den Grünen oder Linken. Wieso gibt es keine Visafreiheit - damit würde man es vielen Türken in Deutschland, deren Verwandte und Kinder zu Besuch kommen wollen und jedes mal ein Visum beantragen müssen, leichter machen. Das würde auch an die Türken das Signal geben, dass wir uns nicht gegen sie, sondern die Regierung stellen. Aber demnächst will man Visafreiheit für die Ukraine einführen - doppelte politische Moral.

    • Pascal Beucker , Autor des Artikels, Inlandsredakteur
      @Philippe Ressing:

      Da stimme ich Ihnen zu. Einen entsprechenden Kommentar habe ich übrigens bereits vor mehr als einem Jahr für die taz geschrieben: https://www.taz.de/!5322948/

  • Es ist unvermeidlich, die Beitrittsverhandlungen mit dem Erdogan-Regime abzubrechen:

    1. will Erdogan die Todesstrafe einführen - ein Ausschlussgrund für die EU.

    2. ist die Legitimität Erdogans in der Türkei zweifelhaft: Wahlverluste werden mit Krieg beantwortet, ein Putsch inszeniert (unglaubwürdig, dass so viele Gülen-Anhänger am 15.7.2016 untätig blieben), und mit einem Referendum, mit Nationalismus wird psychologische Kriegführung betrieben, die über die Wirtschaftskrise hinweg täuschen soll.

    3. Erdogan hat schon lange alles was nicht-Türkisch ist, zum Feind der Türkei erklärt, da ist Schulz nur eine kleine Reaktion darauf.

    4. Es gibt niemand auf türkischer Seite - außer der HDP - die mit der EU über einen Beitritt verhandeln möchte.

    5. Mit einem Land, gegen dessen Handelskapital und, besser, gegen dessen Regime, Saktionen verhängt werden sollen, kann man nicht Verhandlungen über erweiterte Mobilität des Handelskapitals aufnehmen.

    6. In der Bevölkerung ist ein solcher Beitritt zur Zeit nicht konsensfähig, weil Erdogan den Mob mobilisiert und dies hierzulande Unsicherheit verbreitet.

    Für Cem Özdemir ist es zur Zeit gefährlich in die Türkei zu reisen. Beitritt?!

     

    Herr Beucker möchte hier eine Distanz zu Schulz ausdrücken, den Grünen ist klar, dass die EU-Beitrittsverhandlungen sowieso auf Eis liegen. Hier geht es v.a. um grüne Distanz zu einer Koalition unter Führung eines Herrn Schulz. Also Taktik.

     

    Ein Regime, das Krieg gegen einen Teil der Bevölkerung führt und hiesige politische Aktivisten mit Mord bedroht (Cindi Tuncel und Yüksel Koc) durch einen EU-Beitritt aufzuwerten, kann wohl nicht Ihr Ernst sein, Herr Beucker?

    • Pascal Beucker , Autor des Artikels, Inlandsredakteur
      @nzuli sana:

      Wo haben Sie in meinem Text gelesen, dass ich das Erdogan-Regime durch einen EU-Beitritt aufwerten will? Worum es geht: Es ist ein fundamentaler Unterschied, ob die EU-Beitrittsverhandlungen auf Eis liegen oder abgebrochen werden. Denn im ersten Fall können sie problemlos wieder aufgenommen werden, wenn die Türkei zu demokratischen Verhältnissen zurückfindet. Und genau das muss das Ziel der EU sein.