Musik im ehemaligen Jugoslawien: Vom Krieg zum Beat
Der Weg des Turbofolks von Vukovar über Dayton bis zum Ende des Milošević-Regimes war lang. Eines ist sicher: Er ließ niemanden kalt.
Als Ceca in der Nacht auf den 21. Mai 2017 die Bühne im slowenischen Ljubljana betritt, jubeln ihr mehr als zehntausend Fans zu. Viele sind aus Kroatien gekommen, wo der serbische Turbofolk-Star seit den Bürgerkriegen der 1990er Jahre nicht auftreten darf. Doch die Verbote halfen nichts. „Wir hören alle Ceca, aber heimlich“, sagt ein Fan aus Zagreb der kroatischen Zeitung Jutarnji List. Auch in Slowenien war der Auftritt umstritten: Warum, fragten Politiker, habe der kroatische Rechtsrock-Barde Thompson Auftrittsverbot, nicht aber Ceca?
Bis heute gilt der Turbofolk als „Sound des Krieges“, seine Stars als „Ballladensänger der ethnischen Säuberung“. Und für den Turbofolk steht vor allem eine: Svetlana „Ceca“ Ražnatović. Seit 20 Jahren ist sie der erfolgreichste Popstar in Serbien – aber eben auch in der ganzen Region.
Sie war es selbst während der Kriege, die Zehntausende das Leben kosteten; und sie blieb es auch, als sie den Kriegsverbrecher Željko „Arkan“ Ražnatović in einer spektakulären Märchenhochzeit heiratete, 1995, während Arkans berüchtigte Freiwilligengarde in Bosnien mordete. Diese Hochzeit gilt deshalb als Vermählung von Popkultur und Nationalismus. Sie prägte das Image des Turbofolks.
Aber was ist nun eigentlich dieser Turbofolk? Er ist ein Musikgenre, eine mit Keyboards und Synthesizern aufgemotzte Volksmusik, die wegen der heterofonen Triller, die Gesang und Akkordeon vibrieren lassen, oft als „orientalisch“ wahrgenommen wird. Aber Turbofolk ist mehr, er ist ein Lifestyle, eine Kultur.
Verstehen kann man die emotionale Aufladung nur, wenn man einen Schritt zurücktritt. Der Turbofolk nämlich ist in einer besonderen Phase der jugoslawischen Geschichte entstanden. Die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien, ein multinationaler Staat, stand zwischen westlichem Kapitalismus und autoritärem Staatssozialismus. Der ehemalige Partisan Josip Tito Broz hatte 1948 mit Stalin gebrochen. In diesem politischen Zwischenraum entstand auch Freiraum für die Kultur.
Neue, verspielte Weiblichkeit
Diese Toleranz kam aber nicht von ungefähr: Die Kommunisten versuchten, die sehr regionalisierte Musikfolklore zu überwinden, die Hunderttausende in den 1940ern vom Dorf in die Stadt getragen hatten. Durch die Kanalisierung in Kulturhäusern und Staatsorchestern entstand die neu komponierte Volksmusik. Eine Musik für alle Nationalitäten Jugoslawiens, die zwar mit Folkloreelementen den Sound vom Dorf nachahmte, aber von einem modernen Orchester gespielt wurde.
Der Star dieser Zeit war Lepa Brena. Sie brach alle Zuschauerrekorde. Jeder kannte sie. Sie verkörperte eine neue, eine verspielte Weiblichkeit. Mal Schönheit vom Dorf, mal verführerischer Vamp. Lepa Brena etablierte sogar den Minirock. „Mein Liebster schimpft mit mir, / weil ich Rock ’n’ Roll nicht kenne. / Er will Rock, aber ich nicht. Ich liebe nur Čačak“, singt sie 1979 zum schnellen Akkordeon. „Čačak“, der Name einer serbischen Kleinstadt, wird ihr erster großer Hit. Mit ihrer Band Slatki Greh (Süße Sünde) verhandelte sie die großen Themen wie den Stadt-Land-Antagonismus oder Beziehungen zwischen Mann und Frau mit einem Augenzwinkern. Sie verkörperte das alte Jugoslawien – und sein Ende war zunächst auch ihres.
Sonja Vogel: „Turbofolk. Soundtrack zum Zerfall Jugoslawiens“. Ventil Verlag, Mainz
Die radikale Nationalisierung, die Politik und Kultur betraf, ist das Ende der neu komponierten Volksmusik – und die Geburt des Turbofolks. Interessanterweise wird der Turbofolk praktisch von Beginn an, also schon vor den Kriegen, auch negativ bewertet – als „orientalisch“ und „unauthentisch“. 1979 belegte der jugoslawische Zentralstaat die neue, sogenannte Schundmusik mit einer Strafsteuer. Das zeigt, wie in der Kultur schon früh nationale Zugehörigkeiten, wie sie in den 90er Jahren dann die Politik beherrschen sollten, artikuliert wurden.
Während die Entstehung des Turbofolks aus der jugoslawischen neuen Volksmusik musikalisch fließend war, durch neue Techniken die Musik poppiger wurde, veränderte sich der gesellschaftliche Kontext radikal: Krise, Nationalismus und Krieg führten zu einem Rollback auf allen Ebenen. Und so gab es nunmehr wieder Akkordeon statt E-Gitarre, Patriarchat statt Gleichberechtigung, Nationalismus statt Jugoslawismus.
Was den Turbofolk für viele mit den 90ern verbindet, ist vor allem seine Alternativlosigkeit. Isolation und Handelsembargo halfen dem Nationalpopulisten Slobodan Milošević, in Serbien politische und kulturelle Alternativen zu vernichten. Die neuen, privatisierten TV-Sender waren auf Musikfernsehen spezialisiert. Politik war tabu. Und so wurde der Turbofolk allgegenwärtig: die hüpfenden Beats samt leierndem Synthesizer dröhnten in jeder Bar, jedem Autoradio, jeder Wohnung.
Schön, reich, heterosexuell
Während Frauen aus der Öffentlichkeit verschwanden, wie es für postsozialistische Staaten typisch ist, zeigten die Videoclips einen neuen Frauentyp: extrem lange Haare, kurze Röcke, Highheels, extrem geschminkt, sponzoruše genannt. Der Mann, dizelaš, verkörpert den Gegenpart: Warrior-Chic, breit, kurzes Haar, eine Schachtel Marlboro in der Tasche. Die Ästhetik hatte alles Verspielte verloren, die neue Straßenkultur zeigte, was sie sein wollen: stark, schön, potent, sexy, reich, heterosexuell.
Der Turbofolk führte exzessiv all die Insignien des unter dem Embargo für die Mehrheit unerreichbaren westlichen Luxus vor, nunmehr Symbole einer neuen kriminellen Elite. Kein Video ohne Dolce & Gabbana, Armani, Mercedes, Coca-Cola. Sie zeigten das Gegenteil der gesellschaftlichen Misere. Solange „Ceca nacionale“ sang, konnten Armut und Isolation Serbien nichts anhaben.
Und noch etwas änderte sich im Turbofolk radikal. Die Texte. Noch immer erzählen sie eine heterosexuelle Liebe aus weiblicher Perspektive. Doch die ist nunmehr tragisch, enttäuscht, exzessiv. Schuld daran ist der Mann, gezeichnet als brutal und notorisch fremdgehend, während die Frau sich leidend und liebend ihrem Schicksal ergibt.
Cecas Songs folgen diesem Muster. „Wie ein Hund habe ich vor deiner Tür geschlafen. / Wärst du verwundet, würde ich dir mein Blut geben; / meine beiden Augen, / wärst du blind. / Du bist schön, auch ohne Seele“, singt sie in leidendem Tremolo 1996 in dem Hit „Kad bi bio ranjen“. Den Song, so hieß es, hatte Ceca ihrem Kriegshelden Arkan gewidmet.
1995 endete der Bürgerkrieg mit dem Dayton-Abkommen. Das von Slobodan Milošević ausgerufene „Jahr der Kultur“ beendete die staatliche Unterstützung des Turbofolks. Und die Proteste 2000, im Anschluss an den Kosovokrieg, beendeten die Herrschaft Miloševićs. Dieser Aufbruch ging auch an der Musik nicht vorbei. Zwar blieb Ceca ein Megastar – obwohl sie nach der Ermordung Arkans 2000 wegen illegalem Waffenbesitz und Unterschlagung zu einem Jahr Hausarrest verurteilt worden war. Aber es gibt seither viele neue junge Sängerinnen.
Frauen gegen das Patriarchat
Die „orientalischen“ Triller im Gesang sind ihm geblieben, aber die Musik ist eher R&B und Elektro. Und dieser neue Turbofolk hat eine Haltung – Performerinnen wie Seka Aleksić oder Jelena Karleuša setzten sich für Frauen- und LGBTQ-Rechte ein. In einem Staat, der die Gay Pride jahrelang verbot, ist das eine große Sache.
Mit Vorbildern wie Rihanna oder Lady Gaga bedient sich der neue Turbofolk bei der Queer-Ästhetik. Die Sängerin Jelena Karleuša etwa ist die Überspitzung des Klischees: die Brüste noch größer, die Haare noch blonder, die Stimme noch schriller. Oft wird sie darum als Transe verhöhnt, als Verrückte.
Sonja Vogel ist Osteuropawissenschaftlerin und war Redakteurin der taz. Sie hat in Belgrad studiert und mehr Turbofolk gehört, als ihr lieb ist.
In ihren Texten halten die Frauen das Patriarchat nicht mehr aus, sie werden zu Hysterikerinnen, die die Protzkarre des Mannes zertrümmern. Karleušas Hit „Ein Mann, der Frauen hasst“ von 2012 etwa erzählt eine Rape-and-Revenge-Story: Ein Mädchen wird von einem Mann überfallen, und als Frau singt sie: „Ich werde deine Strafe sein. / Lass uns – ra-ta-ta-ta / lass uns Russisches Roulette spielen.“ Wer diesen Song heute hört, fragt sich, wie diese Musik als Soundtrack des serbischen Nationalismus verschrien sein kann.
Der Weg des Turbofolks von Vukovar über Dayton bis zum Ende des Milošević-Regimes war lang. Von dem einen Staat wurde er gefördert, vom anderen bekämpft – aber niemanden im postjugoslawischen Raum ließ er kalt. Der Turbofolk war nie politisch, nicht auf direktem Weg – und doch war er es: Sage mir, was du über Turbofolk denkst, und ich sage dir, wer du bist.
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