Nachforschen Die RAF war ein kollektives Trauma. Oft obliegtes den Nachgeborenen, bei Traumata die richtigen Fragenzu stellen. Die 1974 geborene Anna Ameri-Siemens tut es: „Es bleibt nichts alsein großes Scheitern“
Gespräch Jan Feddersen
taz.am wochenende: Frau Ameri-Siemens, Sie hatten in mir einen dankbaren Leser Ihres Buches „Ein Tag im Herbst. Die RAF, der Staat und der Fall Schleyer“ – die Zeit ist mir ja geläufig. Aber ist dieser Stoff für Sie nicht sehr fern?
Anne Ameri-Siemens: Manches ist mir tatsächlich fern: Wenn man sich dieses Bild von der Bundesrepublik der damaligen Zeit betrachtet, allein die Art, wie journalistisch gearbeitet wurde, ohne Social Media und Breaking News. Wie diese Pressekonferenzen abgehalten wurden, wie die Nachrichtensperre herrschte. Aber Fragen nach der vollständigen Aufklärung der RAF-Morde sind heute natürlich aktuell oder auch die Frage, was ein Staat tun kann und muss, um ein Menschenleben zu retten, oder wie eine Gesellschaft terroristischer Bedrohung begegnet. Damals hatte die RAF dem Staat den Krieg erklärt und der Staat verhielt sich, als befände man sich im Krieg. Die Gesellschaft nahm diese Haltung weitgehend als notwendig an. Im Fall des entführten Hanns Martin Schleyer war es sicher so, dass viele ihm wünschten, er möge überleben. Die Frage, ob der Staat ihn opfern dürfe, um den Austausch von Terroristen aus dem Gefängnis zu vermeiden, wurde dennoch nicht laut genug diskutiert. Beherrschend war die Sorge und Angst vor der Bedrohung.
Es gab wenig Diskussionen, wie der Staat zu handeln hat. Wie lange darf dieser Ausnahmezustand in der Demokratie eigentlich herrschen?
Heribert Prantl, damals Jurastudent, hat es in meinem Buch so formuliert: Die Stunde der Not ist die Stunde der Exekutive. Aber wie lang gilt diese eigentlich? Die Kontrolle der Exekutive war mit der Bildung der beiden Beratergremien um Bundeskanzler Helmut Schmidt ausgeschaltet worden. Zeitgleich entschieden sich die Medien mehr oder weniger zur Selbstzensur. Eine solche Situation hat es davor und auch nach dem Herbst 1977 nie wieder gegeben. Es ist legitim, dass in Ausnahmesituationen mit außergewöhnlichen Maßnahmen reagiert wird. Aber hier wurden aus der Stunde der Not Tage und Wochen. Hätte die früh gefasste Strategie des sogenannten Krisenstabs, der „Kleinen Lage“, da nicht noch einmal überdacht werden müssen?
Wie kamen Sie, die Sie 1974 geboren wurden, überhaupt zu dem Thema?
Die erste Auseinandersetzung mit der RAF hatte ich als Fünfzehnjährige, 1989, nach dem Attentat auf Alfred Herrhausen. Erstaunlich bleibt ja bis heute, dass viele Morde der RAF nicht aufgeklärt sind, dazu gehört auch dieser.
Wie haben Ihnen Ihre Eltern die siebziger Jahre geschildert?
Als politisch sehr aufgewühlte Zeit. Meine Mutter hatte in den sechziger Jahren in Heidelberg studiert, war an den Studentenprotesten nah dran. In den siebziger Jahren lebten sie in der Nähe von Frankfurt am Main und natürlich bekam man den sogenannten Häuserkampf dort und die teils sehr drastischen polizeilichen Maßnahmen mit. Die RAF haben sie nicht als politische Täter wahrgenommen und die Frage nach Solidarität mit den Genossen hat sich ihnen nie gestellt. Was den Herbst 1977 angeht, haben die beiden von Bundeskanzler Helmut Schmidt immer mit Respekt gesprochen, aber schon auch sehr früh die Frage aufgebracht, ob es möglicherweise für den Staat mehr Handlungsmöglichkeiten gegeben hätte.
In welcher Hinsicht?
Hätte der Staat mehr taktieren können, um das Leben Schleyers zu retten? Was ich als Versäumnis sehe, ist, dass man den Kriminalbeamten Alfred Klaus nicht stärker eingebunden und seine Kenntnis genutzt hat und seinen direkten Zugang zu den Häftlingen in Stammheim, etwa zu Gudrun Ensslin und Andreas Baader. Dass man nicht gesagt hat: „Wir verhandeln nicht mit euch über eure Forderungen, es wird keinen Austausch geben, aber es gibt vielleicht eine andere Möglichkeit.“ Und zugleich hat sich wahrscheinlich damals niemand ausgemalt, dass diese Entführung von Schleyer so lange dauern wird.
Länger als sechs Wochen.
Die Mitglieder der „Kleinen Lage“ glaubten, dass man Schleyer finden wird. Der damalige Bundesjustizminister oder auch Burkhart Hirsch, der damals Innenminister in Nordrhein-Westfalen war, hatten bis zum letzten Moment die Hoffnung. Hirsch hat auf die Frage, ob man Überlegungen, was zu tun sei, wenn man Schleyer nicht findet, geantwortet: Es sei leicht gesagt, nach solchen Überlegungen zu fragen. Wann wäre dafür der richtige Zeitpunkt gewesen? Nach einer Woche der erfolglosen Fahndung? Nach zwei oder drei? Und hätte jemand mit Sicherheit sagen können, dass man nicht gerade dann auf der richtigen Spur war?
Wir sind nun mitten in den Details der Geschichte. Aber was haben Sie vor Augen, wenn Sie an diese Jahre denken?
Bei meinem älteren Bruder und mir kam irgendwann mal die Frage auf: Wer sind die Leute auf den Plakaten, die überall hängen? Das sind meine ersten Erinnerungen an die RAF. Aber es gab daneben so viele andere die Zeit prägende Themen, die in meinem Elternhaus eine größere Rolle spielten: Den Häuserkampf habe ich schon erwähnt – ich bin in der Nähe von Frankfurt am Main groß geworden. Wie Immobilienspekulation die Stadt verändert, an solche Gespräche meiner Eltern erinnere ich mich. Und ansonsten natürlich auch die Familie, die Musik der damaligen Zeit und der kulturelle Wandel. Die RAF wurde dann zu einem Thema, das uns alle beschäftigte, weil das Attentat auf Alfred Herrhausen in so unmittelbarer Nähe meiner Schule begangen wurde.
Die siebziger Jahre waren auch das Jahrzehnt des Berichts vom Club of Rome, 1979/1980 gründeten sich die Grünen, insgesamt wuchs der Massenwohlstand immens – das taucht in der Beschreibung jener Zeit überhaupt nicht auf.
Die Autorin: Die 1974 geborene Politikwissenschaftlerin und Journalistin hat mehrere Bücher zum deutschen Terrorismus verfasst.
Das jüngste Werk: Im Frühjahr 2017 kam ihr Buch „Ein Tag im Herbst“ im Rowohlt Verlag heraus, das die Entführung von Hanns Martin Schleyer aus mehreren Perspektiven beleuchtet.
Für dieses Buch war natürlich der Blick auf die RAF, auf den Deutschen Herbst, genau der, den ich wollte. Aber richtig, dieses Jahrzehnt war nicht in jeder Hinsicht die RAF, wenngleich man über das Jahr 1977 sicher sagen kann, dass die Entführung Hanns Martin Schleyers und der Lufthansa-Maschine „Landshut“ wie auch die Morde der RAF politisch und gesellschaftlich sehr prägend waren.
Viele Ihrer Gesprächspartner, deren Zeugnisse Sie in Ihrem Buch abdrucken, wirken, als lebte diese Zeit in ihnen noch sehr stark fort.
Ich denke, sie ist für die meisten, die damals an den politischen Entscheidungen beteiligt waren, noch präsent, wie etwa für Hans-Jochen Vogel oder Burkhart Hirsch – auch verknüpft mit der Frage: Haben wir im Sinne des Staates, zum Schutz des Staates richtig gehandelt? Und in manchen Fällen sicher auch mit der Frage: Tragen wir Schuld am Tod von Hanns Martin Schleyer? Sind wir für seinen Tod mitverantwortlich durch die Linie, die wir festlegten, die einen Austausch nicht infrage kommen ließ. Und dass – wie Burkhart Hirsch eindrucksvoll schildert – während der Wochen der Entführung in der „Kleinen Lage“ nicht überlegt wurde, „was machen wir, wenn wir Schleyer nicht finden“, hat mich doch sehr erstaunt.
Hans-Jochen Vogel war freilich auch geprägt durch den Terrorüberfall während der Olympischen Sommerspiele 1972 auf die israelische Olympiamannschaft.
Richtig, und nicht allein das: Was alle gesagt haben, war, dass man Peter Lorenz ausgetauscht hatte …
… den Berliner CDU-Politiker, der nach seiner Entführung durch die „Bewegung 2. Juni“, eine linksterroristische Gruppe, die fast zeitglich mit der RAF entstanden war, freikam – weil der Staat sich auf einen Gefangenenaustausch eingelassen hatte …
Viele meiner Gesprächspartner für das Buch sagen: Das war der eigentliche Fehler. Das hat die Tür für weitere Entführungsversuche geöffnet. Und es war für alle auch die Rechtfertigung: Jetzt können wir nicht mehr.
Warum müssen die Themen, die Sie anschneiden, abermals aufgeworfen werden?
Ich habe zwischendurch auch Bücher zu anderen Themen geschrieben. Gleichwohl: Ich wollte der Frage nachgehen: Darf man sich von Angst, dem Gefühl von Bedrohung, dem großen Druck, der damals sicher prägend war, leiten lassen? Muss man nicht gerade auch in solchen Situationen laut nachfragen: „Ist das richtig so? Muss der Staat wirklich so handeln?“ Und natürlich vor allem die Frage, hätte man der zunehmenden Radikalisierung junger Menschen, die im Terrorismus endete, nicht früher begegnen müssen? Hätten dadurch Morde verhindert werden können? Das beschäftigt mich tatsächlich oft – gerade im Hinblick auf das, was heute Terrorismus ist.
Welche Stimmen wollten Sie besonders zur Geltung bringen?
Etwa die des früheren RAF-Anwalts Klaus Eschen oder die der Deutschland-Korrespondentin der britischen Times, Patricia Clough, die sagt: „Eigentlich wussten wir gar nicht viel, und man hatte kaum Möglichkeiten, noch mehr zu erfahren.“ Entweder war man zu nah dran an Klaus Bölling, dem Regierungssprecher und Leiter des Bundespresseamtes unter Helmut Schmidt, oder man saß da und hat auf die Pressekonferenzen gewartet. Man war wie in einem Tunnel, denke ich.
Was hätten die Politiker während des Deutschen Herbstesbesser machen können?
Ich frage mich, ob man den Gefangenen in Stammheim nicht hätte sagen sollen: Wir verhandeln nicht. Anstatt das so in die Länge zu ziehen und so zu tun, als verhandelte man doch. Aber das ist der kühle Blick von heute.
Jan Philipp Reemtsma, bis vor Kurzem Direktor des Hamburger Instituts für Sozialforschung, kommt auch zu Wort. Er war selbst entführt worden.
Ich hatte sein Buch „Im Keller“ gelesen, in dem er selbst die Entführung Hanns Martin Schleyers thematisiert. Andernfalls hätte ich es als taktlos empfunden, ihn anzufragen. Da er selbst aber die Parallelen in seinem Buch zieht und die Bilder von 1977 und 1996 vergleicht, habe ich ihm geschrieben und um ein Interview gebeten.
Er hat sich ja in die Debatte über die RAF eingemischt. Auf einer Tagung in der Evangelischen Akademie im Taunus ging es um die RAF. Er führte unter anderem aus, dass all die Gründe sozialer oder sonstiger Art, die die RAF-Mitglieder für ihre Taten anführten, Ausreden seien: Sie hätten schlicht töten wollen.
Die RAF war bereit zu töten, insofern ist dieser Satz sehr richtig. Legitimiert dazu sah sich die Gruppe aufgrund verschiedener Versatzstücke politischer Theorien, die sich in ihren Schriften zusammengefügt hatten. Ich glaube, jemand wie Karl-Heinz Dellwo war überrascht von der Vehemenz, mit der ihm das in dem Moment entgegenschlug.
Er, so zitiert ihn Reemtsma, fragte empört, sollen wir jetzt in Sack und Asche rumlaufen. Reemtsma erwiderte: Besser wär’s. Im linken Diskurs war ja bis dahin die Haltung weit verbreitet: Na ja, das mit der RAF ist schiefgelaufen, die Idee war aber gut. Ist es noch so?
Ich habe mich in meiner Arbeit vor allem auf die Auseinandersetzung mit den Opfern der RAF und ihren Angehörigen konzentriert, aber so weit ich es einschätzen kann, ist diese Haltung in den letzten Jahren deutlich seltener geworden.
Die RAF war ja auch eine Allmachtsfantasie. Man wollte sich mit dem lästigen politischen Klein-Klein nicht aufhalten, oder?
Das sagt Peter-Jürgen Boock in dem Spiegel-Gespräch neulich: Die RAF sei ein arroganter Verein gewesen, dessen Führung sich stets auf Augenhöhe mit Helmut Schmidt sah. Darunter sei es nicht gegangen. Und dass sich die Gruppe als Avantgarde der radikalen Linken verstand, auch das ist ja gezeichnet von Hybris. Boock berichtet auch, wer sich der Gruppe nicht anschloss, galt als feige oder noch nicht so weit und musste noch gehörig was lernen. Die Mitglieder der RAF wollten sich nicht mit dem Kleinen zufrieden geben. Modelle von Stadtteilarbeit begannen in den sechziger Jahren – auch einzelne spätere Mitglieder der RAF waren dort engagiert. Man hätte ja auch da weitermachen und später den Grünen beitreten können. Aber man wollte eben mehr und größer und schneller und hat sich als die dafür Richtigen gesehen. Abgesehen davon, dass der politische Anspruch der Gruppe schon 1970 gescheitert ist, in dem Moment, in dem bei der Befreiung Andreas Baaders ein Mensch niedergeschossen wurde, der im Weg stand. Es bleibt nichts als ein großes Scheitern.
Was auch deshalb bemerkenswert ist, weil wenn Kinder aus bürgerlichen Familien scheitern, das ein besonders großes Debakel bedeutet.
Das Scheitern, von dem ich spreche, ist der Glauben an das vermeintlich politische Ziel, das Befürworten dieser Grausamkeit. Und so grausam auch zu bleiben, wenn man die Menschen direkt vor sich hat, wie bei Hanns Martin Schleyer oder wie bei der Besetzung der bundesdeutschen Botschaft in Stockholm zwei Jahre zuvor, wo der damalige Verteidigungsattaché Andreas von Mirbach von Mitgliedern der RAF niedergeschossen und schwer verletzt eine Treppe hinuntergestoßen und dort liegen gelassen wurde. Noch lebend. Erst nach Verhandlungen durften schwedische Polizeibeamte ihn bergen. Er starb kurz darauf im Krankenhaus. Das ist menschlich noch mal etwas anderes, als irgendwo Sprengstoff zu deponieren. Aber es gibt – und das muss man auch sehen – frühere RAF-Mitglieder wie Silke Maier-Witt, die in den neunziger Jahren ihr Psychologiestudium wieder aufnahm und das Ziel verfolgte, Menschen zu helfen, unter anderem für einige Jahre als Friedensfachkraft im Kosovo.
Immerhin.
Versuche, sein Leben noch einmal in andere Bahnen zu lenken, etwas gesellschaftlich Sinnstiftendes zu tun, würde vielleicht in der Öffentlichkeit noch stärker wahrgenommen, wenn es auf Seiten der früheren RAF-Mitglieder mehr Bereitschaft gäbe, die noch dunklen Felder zu beleuchten. Also die bis heute offenen Fragen. Dazu könnten Personen, die damals im inneren Zirkel waren, etwa Brigitte Mohnhaupt oder Christian Klar, beitragen. Aber sie sprechen darüber nicht.
40 Jahre ist der Deutsche Herbst jetzt her – eine nicht nur bleierne Zeit, wie die Formel zu jenen Jahren in der kulturellen Überlieferung lautet. Was bedeutet die Beschäftigung mit dem Damals für heute?
Die Auseinandersetzung mit den Radikalisierungsprozessen ist wichtig. Interessant wäre, noch mehr darüber zu erfahren, ob und wer aussteigen wollte und wie damit umgegangen wurde. Wenn man an das frühere Mitglied der „Revolutionären Zellen“ denkt, Hans-Joachim Klein, der öffentlich erklärte, den bewaffneten Kampf nicht weiterführen zu wollen, und dafür von den Genossen Morddrohungen erhielt – eine aktive Auseinandersetzung früherer Linksterroristen darüber: Daraus könnte man Lehren ziehen. Auch aus Täterperspektive: Was bedeutet es eigentlich, das eigene Leben weitgehend im Gefängnis verbracht zu haben?
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