: Ein Seelengarten
Nachruf Ein großes Faible für die Oper und viel Lust am Fabulieren – Waldtraut Lewin widmete sich gern historischen Stoffen. Im Mai ist die Schriftstellerin gestorben
Von Andreas Hergeth
Das Buch wartet schon ein Weilchen, ja, es ruft nach mir. Ich hatte es zuletzt an den Weihnachtsfeiertagen vergangenen Jahres in der Hand. Ich wollte es endlich mal wieder lesen, doch irgendwie war die Zeit nicht reif dafür, ich hab es zurück ins Regal gestellt. Dabei habe ich „Federico“ schon neunmal gelesen, alle paar Jahre wieder. Den Roman, ein dicker Schmöker von 650 Seiten, hatte ich mir 1986 gekauft, als ich 20 Jahre alt war. Es war ein Zufallskauf – und ein Glücksfall.
Das Buch, 1984 erschienen (ich hatte die dritte Auflage erstanden), markiert meinen Einstieg in die Welt der historischen Romane – und machte mich mit der Schriftstellerin Waldtraut Lewin bekannt. „Federico“ ist ein Roman um Friedrich II. von Hohenstaufen (1194–1250), der in epischer Breite das Leben des Königs von Sizilien und späteren römisch-deutschen Königs (ab 1212) und (ab 1220) Kaisers des römisch-deutschen Reiches schildert.
Waldtraut Lewin, 1937 in Wernigerode im Harz geboren, zuletzt in Berlin lebend, wurde zu meiner DDR-Lieblingsschriftstellerin. Sie hat in „Federico“, wie in allen ihren Büchern, den einfachen wie genialen Trick angewendet, historische Fakten mit fantasievollen Rahmenhandlungen zu verweben. Das mit der Fantasie ist durchaus wörtlich zu nehmen. Das Leben des rothaarigen Staufers wird rückblickend erzählt. Es beginnt damit, dass eine Frau mit (natürlich) roten Haaren (vom sogenannten „unruhevollem Stamm“) nach IHM sucht und IHN findet: als einen Geist in einer Scheinwelt.
Diese Frau, Truda genannt, scheint selbst wie nicht von dieser Welt. Alters- und eher geschlechtslos (man weiß das alles nicht so genau) wandert sie durch Regionen und Epochen, kann vielleicht ein bisschen zaubern (eine Hexe?), kann kämpfen wie ein Mann, kann Kranke heilen, mit Pferden sprechen – und das in vielen Sprachen. Und sie weiß ganz viel – eine Informantin? Wenn ja, in welchen Diensten?
Anfang Januar sprachen eine Kollegin und ich beim Mittag von unseren Lieblingsbüchern und entdeckten dabei unsere gemeinsame Liebe zu der Schriftstellerin Waldtraut Lewin. „Die könnten wir doch einmal gemeinsam interviewen“, nahmen wir uns vor und starteten im Februar dieses Jahres eine Anfrage. Doch damals war Waldtraut Lewin krank, ließ uns aber über ihre Tochter wissen, wie sehr sie die Anfrage freue und wie gerne sie noch einmal so ein großes Interview geben würde. Wenn sie wieder gesund und guter Dinge sei. Noch im Januar, so steht immer noch auf ihrer Homepage zu lesen, hatte sie ihren 80. Geburtstag bei „noch guter Gesundheit in Israel“ gefeiert.
Doch es wurde nicht mehr gut. Etliche Wochen später mussten wir leider vernehmen, dass Waldtraut Lewin am 20. Mai 2017 in der Charité verstorben war. Die Todesnachricht hat mich sehr betrübt. Und nur das Neue Deutschland veröffentlichte einen Nachruf.
Was bleibt?
Waldtraut Lewins Sohn Niklas Lewin ist der Nachlassverwalter geworden (seine Schwester hat das Erbe ausgeschlagen). Im Juni haben wir uns zu einem Gespräch über seine Mutter getroffen. Wegen interner Redaktionsabläufe dauerte es einige Wochen, die Geschichte aufzuschreiben. Immerhin konnte Niklas Lewin indirekt ein paar Fragen an seine Mutter beantworten, die ich eigentlich ihr hatte stellen wollen.
Mit Brüchen und Narben
Waldtraut Lewin konnte ihre Figuren zum Leben erwecken. Es waren Menschen, alles andere als perfekt, mit Brüchen und Narben (körperlichen wie seelischen), mit Träumen und Wünschen: Manchmal gelang den Männern – noch öfter waren Frauen ihre Heldinnen – etwas, aber oft scheiterten sie an hehren Ansprüchen und sich selbst und/oder den Umständen. Man stelle sich das alles in einem zeitgenössischen DDR-Roman vor. Kein Wunder, dass sich viele DDR-Schriftsteller lieber mit historischen Stoffen beschäftigten als mit der Gegenwart (die die Zensoren sowie die innere Schere des Autors viel eher auf den Plan riefen als Geschichten über Vergangenes).
Der Hang zu den fantastischen Elementen in ihren Büchern, wo kommt der her?, hätten wir Waldtraut Lewin gefragt: Jetzt versucht der Sohn eine Antwort: „Fabulieren!? Einerseits kommt das aus ihrer Kindheit, würde ich sagen“, erzählt Niklas Lewin. „Den Spielen, die sie mit sich selbst gespielt hat. Den Geschichten und den Theaterstücken, die sie für sich selbst mit imaginären Figuren gespielt hat. Zum anderen denke ich, dass das mit ihrer Großmutter zu tun hat, die ihr viel erzählt und vorgesungen hat. Und ja, wenn man es einmal kann, dann kann man damit nicht mehr aufhören.“
Das war gut für mich. Denn Waldtraut Lewin war eine ausgesprochene Vielschreiberin. Das kam mir zupass, denn ich bin absolut gut im Bücherverschlingen. Ich habe mir fast alle ihre Bücher gekauft. Sie füllen gut zwei Meter meines Bücherregals. Viele habe ich immer wieder gelesen. Aber keins so oft wie meinen geliebten „Federico“.
Geboren wurde die Schriftstellerin, Dramaturgin und Regisseurin Waldtraut Lewin 1937 in Wernigerode im Harz. Gestorben ist sie am 20. Mai 2017 in Berlin.
Lewin studierte Germanistik, Latein und Theaterwissenschaften an der Humboldt-Universität. Von 1961 bis 1973 war sie Dramaturgin am Landestheater Halle, von 1973 bis 1977 arbeitete sie als Dramaturgin und Opernregisseurin am Volkstheater Rostock.
1973 veröffentlichte sie mit „Herr Lucius und sein schwarzer Schwan“ ihren ersten Roman. Seit 1978 lebte sie als freischaffende Autorin von Romanen, Novellen, Jugendromanen, Biografien, Drehbüchern und Sachbüchern. Sie schrieb auch das Libretto für die erste ostdeutsche Rockoper „Rosa Laub“.
Unter anderem wurde Lewin mit dem Lion-Feuchtwanger-Preis und dem Nationalpreis der DDR ausgezeichnet. Von 1986 bis 1990 war sie Mitglied der Akademie der Künste in Berlin.
Ab 1975 bis November 1988 wurde Lewin vom Ministerium für Staatssicherheit der DDR als Informelle Mitarbeiterin „Wald“ geführt.
Waldtraut Lewins letzte Veröffentlichung, „Cordoba“, ist 2016 bei Gerstenberg erschienen. Im Nachlass gibt es unveröffentlichte fertige und unfertige Manuskripte. (heg)
Der Schriftsteller Peter Hacks hat im Februar 1990 nach der Lektüre von „Federico“ geschrieben: „Liebe Frau Lewin, Ihr Hacks bedankt sich. Sie verfügen natürlich über die Grund-Gabe des Romanciers: den epischen Sound. 500 Seiten in einer durch- und eingängigen Sprachmelodie halten, das ist etwas, wovon ich mir nicht einmal wünschen kann, ich könnte mir träumen, dass ich es könnte. Aber auf diesem Geheimnis beruht die Sorte Bücher, die den Leser zwingen, in ihnen zu bleiben.“
Waldtraut Lewin selbst hat in einem bislang unveröffentlichten Text über sich selbst gesagt: „Meine Themen sind, glaube ich, bestimmt von der Lust, Eigenes im Fremden zu spiegeln, um es so, durch das Mittel der Verfremdung, in der Distanz klarer zu erkennen. Von meinem Lateinstudium und vom Theater gleichermaßen rührt meine Lust an der Exotik, ja an der Chimäre, und am Spiel her. Das alte Rom, das alte Indien, Italien, Osteuropa – das sind Schauplätze meiner Bücher, sowohl wie die phantastischen Landschaften einer fiktiven Märchenwelt, in der sich unser großes humanes Thema facettenreich darstellen und wie in einem Spiegel mit gemaltem Hintergrund reflektieren lässt. Meine Lust am Fabulieren, meine Freude am Kreativen und der Versuch, meinen Zeitgenossen nicht zu einer Vertiefung ihrer Probleme, sondern zu emanzipatorischen Lösungen den Weg zu zeigen, motivieren meine Schreiberei. Meine Neugier auf anderes ist unstillbar und Quelle der Kunst.“
Eine Akte ist aufgetaucht
Ich habe Waldtraut Lewin die Treue gehalten, als sich nach der Wende die Verlage von ihr abwandten, auch weil viele DDR-Bürger eine Zeit lang nichts mehr von „ihren“ Autoren lesen wollten. Aber auch weil eine Akte auftauchte, aus der hervorging, dass sie bereits seit 1975 bis November 1988 als Informelle Mitarbeiterin (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit geführt wurde. Ihr Deckname war „Wald“. Das hätte sich Lewin selbst sicher besser ausgedacht.
Die IM-Berichte sind beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen einzusehen. Bei Wikipedia steht dazu: „Obwohl aus den Akten klar ersichtlich ist, dass sie mit ihren Berichten niemandem geschadet hat, haben die meisten großen Verlage nach dem Bekanntwerden der Akte ihre Zusammenarbeit mit der Schriftstellerin eingestellt.“
Doch sie hat sich nicht unterkriegen lassen und weitergeschrieben. Nach der Wende verfasste Waldtraut Lewin einige Jahre Krimis, ein paar zusammen mit ihrer Tochter Miriam Margraf. Sie fand wieder andere Verlage, die ihre Bücher druckten, vornehmlich Jugendverlage (was ihre Schreibe veränderte; sie wurde hier und da einfacher – früher mehrdimensional, fortan nur „noch“ zweidimensional). Erst las ich die tollen Krimis und dann endlich wieder historische Stoffe: etwa Goethe, Kolumbus und Luther (und ihren Luther-Essay im November 2016 in der Zeit) – eindrückliche, weil lebendige Biografien. Und dann rückte sie immer wieder Frauenschicksale, meist unbekannte, in den Mittelpunkt ihrer Bücher, vor allem von Frauen jüdischen Glaubens. Da tat sich ein neues Kapitel für mich auf.
Waldtraut Lewin entstammte einer jüdischen Familie. Eine ihrer letzten großen Veröffentlichungen war „Der Wind trägt die Worte – Geschichte und Geschichten der Juden“ in zwei rund 700 Seiten starken Bänden. Eine Mammutleistung. Eine lesbare, weil das Ganze natürlich keine trockene Faktenansammlung ist: „Wieder gibt es drei Erzählebenen: die Mitteilung der historischen Fakten, deren Kommentierung und szenische Miniaturen, in denen besondere historische Momente bzw. Einzelschicksale ,nachempfunden' werden“, hat Christel Berger im Neuen Deutschland darüber geschrieben. „Schließlich hat das Ganze eine Schriftstellerin geschrieben, die auf Phantasie und Ausmalung nicht verzichten will.“
Eine Frage wäre die nach ihrer Religiosität gewesen. Niklas Lewin: „Sie war schon gläubig. Sie hat sich mit dem Judentum befasst, und das bedeutet natürlich auch, sich mit dem einen Gott zu befassen. Aber sie hat keine religiösen Vorschriften befolgt oder Rituale. Gläubig auf eine poetische Art und Weise.“ Das passt irgendwie zu Waldtraut Lewin.
Am Ende war die Schriftstellerin hundert Tage im Krankenhaus, erzählt der Sohn. „Ich hab viel mit ihr darüber geredet. Sie hatte keine Angst vor dem Tod“, doch sie „wollte würdevoll sterben“. Das sollte ihr am Ende gelingen.
Ihren beiden Kindern hat sie Anweisungen hinterlassen. „Sie wünschte keine Feierstunde, keinen Grabstein, sie wollte ihren Körper der Anatomie hinterlassen“, sagt Niklas Lewin, „doch die hat gesagt, nein danke, sie hätten genug Körper. Es blieb dann die Verbrennung.“
Vor der Einäscherung hat der Sohn seine Mutter noch einmal gesehen. Ein letztes Abschiednehmen. „Da hab ich sie nicht wiedererkannt. Der Körper sah zwar genau so aus, aber vom Gesichtsausdruck her war es anders. Das hat mich sehr beruhigt, ich hatte wirklich das Gefühl, die Seelen waren schon fort. Und meiner Meinung nach, meine Mutter war eine Dichterin, war da mehr als eine Seele im Spiel. Ein Seelengarten.“
Waldtraut Lewin – angesichts ihres Vornamens auch das sinnfällig – fand ihre letzte Ruhestätte auf dem Waldfriedhof Stahnsdorf.
Wie es sich für eine Schriftstellerin gehört, hat sie ihren Kindern ein Abschiedsgedicht diktiert:
„Dein Tod, Mutter / Deinen Abschiedsmund sah ich, / Schwarzen Rosen gleich / Traudelnd bei den schweren Wassern / Langsam sinken in den Teich. / Abschiedsküsse stiegen reich / Auf vom sinkenden Gesichte / Welken Blütenblättern gleich / Die vergingen sich im Lichte. / Von da breiteten sich Triebe / Vom schönsten Wuchse aus im Teich / Ein Trauerwald erwuchs aus Liebe / Und trug mich hoch ins Blätterreich.“
Uns allen hat sie auch etwas hinterlassen. Im Nachlass fand der Sohn einen „halbfertigen Dante“, also ein Fragment, und noch mehr Romane, aber auch Lyrik, Libretti – sie hatte ein starkes Faible für die Oper – und „was nicht noch alles“, sagt Niklas Lewin. „Die Nachwelt wird ihr Tun haben.“ Ich würde mir natürlich die Bücher Waldtraut Lewins auch weiter kaufen.
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