: Vorhang hoch!
BÜHNE Intendantenwechsel, Geisterstücke und Romane als Stückvorlagen: Ein bundesweiter Rundblick auf die nach dem Sommer beginnende Theatersaison 2017/18
von Katrin Bettina Müller
Beginnt in der Theatersaison 2017/18 eine neue Zeitrechnung? Das Jahr null nach dem Ende von Frank Castorfs Volksbühne in Berlin? Der vielbeschworene Untergang des Ensembletheaters?
Wahrscheinlich nicht. Aber große Aufmerksamkeit ist der Theaterstadt Berlin sicher, wenn die erste Volksbühnenspielzeit des neuen Intendanten Chris Dercon beginnt. Der zeigt zunächst viel Tanz auf dem Tempelhofer Feld, organisiert und choreografiert von Boris Charmatz. Erst im November beginnt das Theaterprogramm im Haus am Rosa-Luxemburg-Platz mit Stücken von Beckett und von der Regisseurin Susanne Kennedy. Und dann wird es bald sehr geheimnisvoll, wenn der thailändische Filmregisseur Apichatpong Weerasethakul an seinem ersten Geisterstück für die Bühne arbeitet.
Auch das Berliner Ensemble hat einen neuen Intendanten, Oliver Reese, und der hat an Schauspielern und Regisseuren viele große Namen an sein Haus gebunden. Michael Thalheimer wird exclusiv in Berlin arbeiten, Frank Castorf inszeniert dort „Les Misérables“, und Reese selbst eine Uraufführung „Panikherz“ nach Benjamin von Stuckrad-Barre. Das Berliner Ensemble wird zu einem echten Herausforderer für die Volksbühne werden.
Schaut man, wohin es die alte Volksbühnencrew sonst noch so hingeweht hat, findet sich einiges: Castorf setzt seine Dostojewski-Exegese am Schauspielhaus Zürich mit der Erzählung „Die fremde Frau und der Mann unter dem Bett“ fort. Was schon mal vielversprechend nach Boulevard klingt. Herbert Fritsch zeigt gleich im September an der Berliner Schaubühne „Zeppelin“ nach Ödön von Horváth, René Pollesch ist am Schauspiel Stuttgart zugange mit „Was hält uns zusammen wie ein Ball die Spieler einer Fußballmanschaft?“. Und Christoph Marthaler begleitet seine Dramaturgin Stefanie Carp, die Leiterin der Ruhrtriennale wird, dahin als Schauspielchef.
Berlin: Die Volksbühne startet am 19. 9. mit Veranstaltungen auf dem Tempelhofer Feld, am 30. 9. gibt es dort mit „Iphigenie“ auch die erste Premiere. Beim Berliner Ensemble geht es mit der Premiere von „Caligula“ nach Albert Camus los, 21. 9.; an der Schaubühne mit „Zeppelin“ nach Ödön von Horváth, 19. 9..
Hamburg: Erste Uraufführung im Schauspielhaus ist „Tartare Noir“, eine Groteske nach Thomas Peckett Prest, 15. 9.
München: Die Kammerspiele beginnen die Saison 2017/18 mit der Premiere von „On the Road“ nach Jack Kerouacs Klassiker am 29. 9., das Residenztheater dagegen mit der Premiere von Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“, 23. 9.
Düsseldorf: Im Schauspielhaus feiert die Aischylos-Tragödie „Die Orestie“ am 14. 9. Premiere, einen Tag später ist Uraufführung von „Ellbogen“ nach Fatma Aydemirs gleichnamigem Roman.
Ans Berliner Ensemble ist auch das Duo Clemens Sienknecht und Barbara Bürk verpflichtet, die ihre Stücke oft in das Gewand alter Radioshows und Tonstudios kleiden. Das Theater ist bei ihnen so gemütlich wie ein alter Speicher, wo Kinder zwischen den abgestellten Möbeln ihre eigenen Geschichten erfinden. Dem Deutschen Schauspielhaus in Hamburg spendieren sie die Uraufführung „Anna Karenina – allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie“ im November. Ehebrecherinnen sind übrigens ein ausgewiesenes Spezialgebiet dieses Teams.
Eine weitere beliebte Combo, das Büro Braun, stürzt sich am gleichen Haus auf den Roman „Der goldene Handschuh“, den Heinz Strunk über eine berüchtigte Absturzkneipe Hamburgs und einen Frauenmörder geschrieben hat. Das ist sozusagen ein Heimspiel.
In München werden die Kammerspiele unter Matthias Lilienthal weiter tapfer ihren vielfach angegriffenen und verleumdeten Theaterbegriff verteidigen. Zum Beispiel mit Jack Kerouacs Klassiker „On the Road“, den der äußerst sanfte und tiefgründelnde Regisseur David Marton inszeniert, mit sehr viel Jazz und sehr viel Improvisation, Ende September. Im Oktober folgt ein merkwürdiges Experiment, eine schon bestehende Inszenierung wird kopiert, „Mittelreich“, nach einem Roman von Josef Bierbichler. „Die Szenographie bleibt identisch. Nur die SchauspielerInnen werden ausgetauscht. Es stehen ausschließlich schwarze DarstellerInnen auf der Bühne“, kündigt das Haus an.
Am Residenztheater in München beginnt derweil die letzte Spielzeit unter dem Intendanten Martin Kusej, der dann ins Burgtheater nach Wien gehen wird. Wer ihm nachfolgt, weiß man noch nicht. Das Haus startet mit Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“, einer beklemmenden Suche nach utopischen Entwürfen.
Viele der angekündigten Uraufführungen beruhen auch in der kommenden Spielzeit wieder auf Romanen. In der letzten Werkstattstatistik des Deutschen Bühnenvereins, die 2017 für die Spielzeit 2015/16 erschien, führte der Roman „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf mit 46 unterschiedlichen Inszenierungen die Liste an. Die erste Inszenierung, in Dresden, stammte von Jan Gehler. Zum Beginn dieser Saison arbeitet er wieder mit einem Romanstoff, diesmal am Schauspielhaus Düsseldorf: „Ellbogen“ von Fatma Aydemir, die, wenn sie nicht Romane schreibt, Redakteurin der taz ist. „Ellbogen“ erzählt von einer jungen Deutschtürkin, die in Berlin und in Istanbul auf viele Widerstände auf ihrem Weg in die Unabhängigkeit trifft.
Zu den meistdiskutierten Lebensgeschichten der letzten Zeit gehörte Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“, über die französische Arbeiterklasse und ihre Empfindung des Missachtet-Werdens. Auch das kommt auf die Bühne. Der Schaubühnen-Intendant Thomas Ostermeier inszeniert diese Geschichte vom Nachdenken über politische Fehler in Berlin.
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