: 90 Meilen sind auch eine Mauer
Unterwegs Die Reise nach Berlin – ich werde danach nicht mehr derselbe sein
Von Jorge Miranda Márquez
Einen Tag vor der Reise überlegte ich, wie das alles werden würde. Dort viel Konsumismus, wenig Kommunismus, die Leute anders, die Straßen ohne Schlaglöcher, die Autos die neuesten Modelle, Migranten, ich hatte alles gelesen. Und bin gespannt, es zu erleben.
Auf dem Flug nach München sitze ich in der Mitte des Flugzeugs, über den Tragflächen, auf jeder Seite eine Deutsche. Beide essen Kekse und prosten mir zu, sehr nett. Das Flugzeug hebt ab, wir werden in die Sitze gedrückt. Die Insel Kuba verschwindet unter meinen Füßen, dann Florida und seine Buchten, die Bahamas. Auf der Flughöhe angekommen, sieht man nur noch Wolken. Ich bin mit Kopf und Körper im Himmel, ganz entgegen dem Rat meines Großvaters: „Immer mit dem Kopf im Himmel und den Füßen fest auf der Erde!“
Zehn lange Stunden. Ich gebe 6 Euro für miserable Kopfhörer aus, nur um zwei Filme zu sehen. Zum Glück gibt es Weltmusik, ich finde Los Van Van, Condor, weiß gar nicht, was sie da haben – jenes Album, mit dem Formell zum ersten Mal einen Grammy gewann, ich fliege und tanze und meine Kopfbewegungen lassen die Nachbarinnen besorgt schauen.
Die digitale Landkarte zeigt, dass wir an der Küste der USA entlang fliegen. Aus der Höhe sehe ich den Ort, wo meine Familie lebt, den Ort, der mir fast alle meine Leute genommen hat, und wie aus Rache fliege ich oben drüber in Richtung des alten Europa, des modernen Berlin.
Wir landen in München und rennen zum Anschlussflug nach Berlin. Ich bin wieder der Letzte. Vielleicht kommt deshalb mein Koffer drei Tage zu spät, oder weil ich mit ein paar Millilitern gegen das deutsche Gesetz verstoßen habe, das da sagt: Maximal ein Liter Alkohol darf mitgebracht werden.
Nachdem ich den ersten Fuß auf deutschen Boden gesetzt habe, beginnt ein Film in 3-D. Eine Welle von Ordnung und Fortschritt erfasst dich. Alles ist ausgeklügelt, ist für alle gedacht, oder wenigstens für die, die arbeiten und lernen und Geld haben. Taxis, Busse, Züge. Leute mit Haaren in allen Farben. Graffiti, Bettler, Bier für jeden Geschmack. Eines muss man sagen: Wer arbeitet, lebt gut, und der Reiche wird jeden Tag reicher.
Am zweiten Tag zeigen sie mir die Mauer, oder was davon übrig ist. Die Mauer, die einst mehr als nur ein Land teilte. Es scheint mir jetzt so einfach, da drüberzuspringen, wenn dich keiner erschießen will. Und für einen Moment fühle ich mich zu Hause, in meinem Haus, von wo ich das nordkaribische Meer sehen kann, das auch nichts anderes ist als eine Mauer von 90 Meilen Breite, die seit mehr als einem halben Jahrhundert die Kubaner voneinander trennt. Es überrascht mich, wie viele Ähnlichkeiten unsere Geschichte aufweist. Nach dieser Reise werde ich nicht mehr derselbe sein.
Gerade lehnt sich Hamburg gegen den G20-Gipfel auf, junge Deutsche protestieren gegen die Ordnung, die ihnen der Kapitalismus aufzwingt. Noch existiert die Demokratie, in jedem Einzelnen von uns. Manchmal ist es besser zu kämpfen, als ruhig vor sich hin zu schweigen.
Jorge Miranda Márquez, 32, war Vizedirektor der Zeitung „Mayabeque“. Er ist heute freier Journalist in Havanna
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