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Debatte um KinderschutzJugendämter überlastet

Trotz 75 zusätzlicher Stellen herrscht bei den Allgemeinen Sozialen Diensten ein Kommen und Gehen. Enquetekommission plant Mitarbeiterbefragung

Zu voreilig? In Hamburg werden mehr Kinder vom Jugendamt vorsorglich aus Familien herausgenommen Foto: dpa

HAMBURG taz | Es ist vielleicht die wichtigste Behörde der Stadt. Die Allgemeinen Sozialen Dienste (ASD), die über das Wohl der Kinder wachen, bekamen 2015 nach langem Kampf eine „Personalbemessung“ und infolge dessen 75 Stellen dazu. Dort arbeiten nun über 500 SozialarbeiterInnen auf 446,5 Stellen. Doch die ASDs „kommen nicht zur Ruhe“, sagt die Jugendpolitikerin Sabine Boed­dinghaus (Linke): „Es wird berichtet, viele Kollegen scheiden schnell wieder aus, wenn sie mitbekommen, wie komplex die Arbeit im ASD ist.“

Die Fluktuation betrug im Vorjahr 20 Prozent. Boeddinghaus fragte in einer Anfrage die Zahlen für das erste Quartal 2017 ab und nennt sie „alarmierend“. Denn setzt sich der Trend fort, würden 2017 sogar 112 ASD-Kräfte ihren Job verlassen, entweder dauerhaft oder vorübergehend in Elternzeit. Zuletzt gaben sechs ASD-Abteilungen an, überlastet zu sein. Das Problem ist: Junge Kollegen müssen erst einmal eingearbeitet werden.

Eine gute Mischung für einen ASD bestehe aus Zweidrittel erfahrener MitarbeiterInnen und einem Drittel neuer KollegInnen, die weniger als drei Jahre dabei sind, das schrieb der Sozialwissenschaftler Christian Schrapper von der Uni Koblenz der Stadt 2012 in einer Studie ins Stammbuch. Von dieser Mischung ist Hamburg auch fünf Jahre später weit entfernt, das ergab die Linken-Anfrage. Nur im Bezirk Altona sind 78 Prozent der KollegInnen länger als drei Jahre im Dienst. Auch Harburg und Nord stünden noch ganz gut da. In Bergedorf dagegen habe nur jeder dritte ASDler mehr als drei Jahre Berufserfahrung, in Wandsbek nur 43 Prozent.

Es gibt neben dem demografischen ein inhaltliches Problem, welches Sozialwissenschaftler Fabian Kessl kürzlich in der „Enquetekommission Kinderschutz“ skizzierte: In Hamburg werde Kinderschutz vor allem als Gefahrenabwehr im Sinne eines „präventiven Opferschutzes“ verstanden, nicht aber als Sozialarbeit. Binnen 15 Jahren hat sich die Zahl der vom Jugendamt vorsorglich aus den Familien genommen Kinder auf etwa 2.000 verdoppelt. Oft offenbar voreilig. Denn die Fälle, in denen die Familienrichter den Eltern das Sorgerecht entzogen, blieb fast gleich. ASD-Mitarbeiter haben Angst, etwas falsch zu machen und verlören so ihre Handlungsicherheit, sagt Kessl.

Vorsorge

Die ASDs gehören den Bezirken an. Es gibt 42 Abteilungen.

In Hamburg gab esseit 2004 tragische Todesfälle vernachlässigter Kinder. Infolge müssen die ASDs anders arbeiten.

Im Vergleich mit Berlin oder Bremen ist die Zahl der Todesfälle nicht auffällig hoch.

Inobhutnahmen verdoppelten sich: 2005 1.161-mal, 2016 2.140-mal. 105 Kleinkinder kamen ins Kinderschutzhaus.

Flacher stieg der Sorgerechtentzug: 2003 403-mal, 2016 536-mal.

Es sei gut, dass es mehr Stellen gibt, sagt Sieglinde Friess von der Gewerkschaft Ver.di. „Doch die Arbeitsbedingungen beim ASD sind immer noch schwierig. Die Kollegen klagen, dass sie hohe Dokumentationspflichten haben und immer noch die meiste Zeit vorm Computer sitzen.“ Das sei eine Überforderung, gerade für die Neuen. „Eine junge Sozialarbeiterin sagte mir: Lieber verdiene ich weniger, als diesen Stress ein Leben lang mitzumachen“. Es sei gut, dass es eine Enquetekommission gibt, die sich einmal mit dem Arbeitsfeld auseinandersetzt. Auch Boeddinghaus erhofft sich hier Impulse. Die Kommission plant für den Herbst eine Online-Befragung, bei sich alle ASD-Mitarbeiter über ihre Arbeit äußern können.

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3 Kommentare

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  • Sieglinde Friess habe von einer jungen Sozialarbeiterin gesagt bekommen, diese würde lieber weniger verdienen als sich solchem Stress auszusetzten... dabei kann man in Hamburg nicht wirklich weniger verdienen als beim ASD/Jugendamt. ca. 1500.- Netto sind für einen solchen Beruf einfach zu wenig...

  • Ein daraus resultierender Skandal bleibt von der Öffentlichkeit bisher unbemerkt, da die Betroffenen über keine entsprechende Lobby verfügen. Kleinkindern und Säuglingen wird zunehmend das Recht genommen, bei ihren leiblichen Eltern(-teilen) aufzuwachsen. Die ASD-MitarbeiterInnen entscheiden sich immer häufiger aus Sicherheitsgründen eher für die Inobhutnahme eines Kindes, als für die Ressourcenbereitstellung zur Unterstützung und Befähigung der leiblichen Eltern, ihr Kind selber großzuziehen. Den Eltern wird im Rahmen der Kollegialen Beratung, nach Aktenkenntnis, die Fähigkeit zu oder abgesprochen, für ihr Kind zukünftig selbst sorgen zu können. Ein längerer oder gar vertrauensvoller Kontakt zwischen ASD-MitarbeiterInnen und Eltern scheint nur noch in den seltesten Fällen die Grundlage für solch folgenschwere Entscheidung zu sein. KollegInnen anderer Institutionen, die Einschätzungen auf Grundlage einer intensiven Zusammenarbeit mit der Familie oder der Begleitung eines Elternteiles haben, werden immer seltener hinzugezogen. Wo die Angst groß ist, regiert schnell das Misstrauen. Und so scheinen die immer neuen MitarbeiterInnen auch schnell zu verinnerlichen, dass sie den Eltern nicht trauen dürfen. Auch die Eltern misstrauen dem ASD, haben in der Regel "Angst vor'm Jugendamt" , bemühen sich, ihre Schwächen, Unsicherheiten und Probleme, also ihren Hilfebedarf, zu verheimlichen. Was zur Folge hat, dass die Eltern zum einen nicht die entsprechende Hilfe erhalten und zum anderen, dass durch Täuschungsversuche das Misstrauen der ASD-MitarbeiterInnen gegenüber Eltern weiterhin geschürt wird. Eine gesetzlich vorgesehene Zusammenarbeit zwischen Jugendamt und Eltern zum Wohle des Kindes, kann aufgrund des beidseitigen Misstrauens gar nicht umgesetzt werden. Für die ASD-MitarbeiterInnen ist die Inobhutnahme eines Säuglings somit verständlicherweise der sicherere Weg.

    Aber für den Säugling? In Pflege aufzuwachsen, birgt ebenfalls erhebliche Risiken und Nebenwirkungen

  • Aus meiner Sicht ein außerordentlich wichtiger Beitrag, weil "Selbstschutz" hier ja auch Ausdruck für für das Misslingen eines Qualitätsmanagment´s darstellen könnte, das "auf Gedeih und Verderb" eingeführt werden mußte ... und das außerordentlich unseelige "Instrument" Jugendhilfeinspektion rechtfertigt. Es wird Zeit, das der ASD wieder mehr Zeit für Menschen bekommt und nicht gezwungen wird Eltern hinter die Stirn zu sehen. Es wäre auch gut wenn ASD-Beschäftigte Sozialarbeiterinnen, Hilfesuchende und Träger-Beschäftigte Sozialpädagogen wieder mehr und freier aushandeln könnten, was im Interesse des Kindes / Heranwachsenden liegt.

    JusIt bräuchte dafür eine Stop-Taste oder auch einen besonderen "Vertrauensraum"!

    Peter Meyer