Krise in Venezuela: Durchmarsch zur Verfassung
Trotz internationaler Kritik, Protesten und Vorwürfen der Wahlfälschung: Die Verfassungsgebende Versammlung konstituiert sich.
Zu Fuß waren die 545 Delegierten zuvor zum Parlamentsgebäude gezogen. Schon seit Mittwoch hielten Einheiten der Nationalgarde und der Polizei den Gebäudekomplex besetzt, in dem die Nationalversammlung tagt. Am frühen Freitagmorgen waren die Zugänge und umliegenden Straßen abgeriegelt worden. Zweimal ließ Präsident Maduro den Auftakt um 24 Stunden verschieben.
Entsprechens verschob die Opposition ihren Protestmarsch zum Parlament. Bei dem Marsch war es am Freitag zu heftigen Zusammenstößen gekommen. Mit einem massiven Einsatz von Tränengas hatten Polizei und Nationalgarde die Demonstrierenden schon weit vor dem Parlamentsgebäude auseinandergetrieben. Mindestens sieben Personen wurden verletzt.
Die VV soll eine Verfassung erarbeiten, die ein neues Staatsmodell festlegt. Für die Oppositionsmehrheit im Parlament ist sie jedoch das Instrument, mit der Maduro seine Diktatur festigen will. Unstrittig ist, dass die alle staatlichen Institutionen gegenüber der VV an Macht verlieren: „Die bestehenden Gewalten können die Entscheidungen der Verfassunggebenden Versammlung in keiner Weise verbieten,“ heißt es in Artikel 349 der derzeit gültigen Verfassung.
Generalstaatsanwältin abberufen
Die Mitglieder der VV waren am vergangenen Sonntag gewählt worden. Da die Opposition die Wahl abgelehnt hatte, standen nur regierungsfreundliche KandidatInnen zur Wahl. Der Oberste Wahlrat gab die Beteiligung mit 8,1 Millionen Stimmberechtigten an. Dem widersprach die britische Firma Smartmatic. Mindestens eine Million Stimmen seien zu viel angegeben worden, erklärte die Firma, die seit 2004 mit dem elektronischen Wahlsystem in Venezuela beauftragt ist.
Generalstaatsanwältin Luisa Ortega beantragte am Donnerstag vor einem Gericht eine einstweilige Verfügung gegen die konstituierende Sitzung und leitete Ermittlungen gegen den Obersten Wahlrats wegen des Verdachts der Wahlfälschung ein. Noch im Laufe des Donnerstag beschloss der Oberste Gerichtshof Ortegas Suspendierung. Es wird befürchtet, dass die VV ebenfalls ihre Absetzung beschließen wird. Die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte hat Ortega am Freitag Schutzmaßnahmen gewährt. Die Regierung müsse alles tun, um Ortegas „Leben und ihre körperliche Unversehrtheit“ zu garantieren, forderte die Kommission mit Sitz in Washington. Ortega ist der Regierung von Präsident Maduro schon lange ein Dorn im Auge.
Noch Stunden vor der konstituierenden Sitzung hatte Papst Franziskus Präsident Nicolás Maduro zur vorrübergehenden Aussetzung der Verfassunggebenden Versammlung (VV) aufgefordert. Er beobachte die „Radikalisierung und Verschärfung der Krise“ mit „großer Sorge“, ließ der argentinische Papst verlauten. Die USA haben eine Anerkennung der VV ebenso abgelehnt, wie alle südamerikanischen Staaten, außer Ecuador und Bolivien. Die Mitgliedstaaten der südamerikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur, Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay, haben zudem den endgültigen Ausschluss Venezuelas aus dem Mercosur angekündigt. Seit Dezember 2016 ist Venezuelas Mitgliedschaft suspendiert.
Für die EU hatte sich am Freitag Frankreich zu Wort gemeldet. In Abstimmung mit seinen europäischen Partnern werde man jede Vermittlung unterstützen, die einen „glaubwürdigen, aufrichtigen und ernsthaften Dialog zwischen Regierung und Opposition“ ermöglicht, hieß es aus dem Élyséepalast. Rückenwind erhält Maduro aus Russland. Dem russischen Präsidenten Wladimir Putin kommt es gelegen, dass er sich angesichts der drohenden US-Sanktionen gegen sein Land auf die Seite seines venezolanischen Amtskollegen stellen kann. China beruft sich auf das Prinzip der Nichteinmischung und bewertete die Wahl der VV als „weitgehend reibungslos“.
Am frühen Freitagmorgen war der Oppositionspolitiker Antonio Ledezma wieder in den Hausarrest überführt worden. Der 62-jährige Bürgermeister des Hauptstadtbezirks Caracas war Anfang der Woche ebenso wie der Oppositionspolitiker Leopoldo López aus dem Hausarrest ins Militärgefängnis Ramo Verde gebracht worden. López sitzt weiter im Gefängnis. Die politische Ungewissheit schlägt auch auf die Wirtschaft durch.
Der Bolívar befindet sich im freien Fall. Der offizielle fixe Wechselkurs liegt gegenwärtig bei 2.870 Bolívar für einen Dollar. Am Donnerstag mussten auf dem Schwarzmarkt für einen US-Dollar 17.000 Bolívar gezahlt werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Geschlechtsidentität im Gesetz
Esoterische Vorstellung
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod
Nach Diphtherie-Fall in Berlin
Das Problem der „Anthroposophischen Medizin“
Protest in Unterwäsche im Iran
Die laute Haut