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normalzeitHELMUT HÖGE über den Spätsommer

Interspecies Communication am Wochenende

Auf den Vogelinseln im Wattenmeer, so sagt es einer der dortigen Ornithologen, ist jetzt die schönste Zeit angebrochen: „Es ist ruhig, die Vögel sitzen in der Sonne und erholen sich – für sie haben jetzt die Ferien begonnen. Die Brut ist flügge und geht selbst auf Nahrungssuche, all die Revierkämpfe sind Schnee von gestern. Das Wetter ist milde, und manchmal hört man nicht einmal mehr die Wellen am Ufer ausrollen.“

Ähnlich erging es mir auf meinem langen Wochenendspaziergang von Steglitz über Schöneberg zum Prenzlauer Berg und von dort nach Kreuzberg: Nur einen einzigen Vogel habe ich schimpfen gehört. Sonst war es überall still, auch in den Parkanlagen, die voll waren mit lesenden und entspannenden Leuten: Die ganze Stadt genoss die sanfte Ruhe. Nur ab und zu hörte man auf einem Bolzplatz Kindergeschrei oder es donnerte ein Motorrad vorbei.

Die Kastanienbäume wehren sich tapfer gegen die Miniermotte, indem sie trotz verschrumpelter Blätter scheinbar unbeirrt weiter riesige Mengen Kastanien ausbilden. Übrigens sehen diese Bäume in Böhmen viel zerrupfter aus als die in Berlin. Während die Bürger in die Wälder ausschwärmen, weil es dort heuer aufgrund des feuchten Sommers besonders viele Pilze gibt, zieht es umgekehrt viele Vögel in die Stadt, wo jetzt die Beerensaison begonnen hat: Holunder, Eberesche, Weißdorn, Heckenrose, Kirsche und Schlehen sind voll mit Früchten. Selbst die Spatzen tschilpen derzeit nur noch ganz leise – quasi aus Gewohnheit.

Am Springbrunnen des Schöneberger Viktoria-Luise-Platzes nehmen einige Nebelkrähen ein Bad, auch sie wirken friedlich gestimmt – wie sediert – und ignorieren die neben ihnen ebenfalls trinkenden weißen Schmetterlinge. In den Biergärten fliegen die Wespen träge in die leeren Latte-macchiato-Gläser. Ein Eichhörnchen huscht von einem BSR-Abfallkorb zum nächsten.

In der Sredzkistraße hat ein toll gewordener Knöterich einen ganzen Hinterhofgarten samt zweier Bäume überwuchert. Am Kreuzberger Engelbecken beobachtet ein Schwanenpärchen sorgenvoll, wie unvorsichtig ihre vier Kinder sich den Menschen nähern, um sie anzubetteln. Eine Mandarinente hat sich dort vorübergehend einer Gruppe von Blesshühnern angeschlossen.

Unter der großen Platane an der Baustelle Manteuffel Ecke Wiener, wo, „so Gott will“, demnächst eine Moschee entstehen soll, hat sich eine kleine Gruppe von Anwohnern versammelt: Sie sind besorgt, dass das Abpumpen des Grundwassers für den Moscheebau ihre Platane schädigen könnte. „Ich kuck jeden Tag, aber bisher sieht sie noch ganz gesund aus“, meint eine Frau, der die Platane vor dem 1987 abgefackelten Bolle-Supermarkt derart wichtig ist, dass sie wegziehen würde, sollte dieser schöne Baum eingehen.

Ein älterer Mann hat schon mehrmals die Bauarbeiter gebeten, die Platane gelegentlich zu gießen, auch die vier kleinen Bäume davor, die noch näher an der Baugrubenkante stehen. Ein junger Mann erwidert ihm, in den letzten Wochen habe es derart viel geregnet, dass das bisher nicht notwendig gewesen sei. Früher hätte sich Demirel immer um die Bäume gekümmert, der nebendran im „Deutschen Haus“ ein Restaurant betrieben habe. Aber er sei ja jetzt leider umgezogen in die Wiener Straße 10.

Eine tätowierte Frau meint, in den nächsten Tagen bräuchte die große Platane aber mal wieder Wasser, sie lasse schon ihre Blätter hängen. Das wird von den anderen bestritten. „Die sehen tagsüber in der Sonne immer ein bisschen schlaff aus.“ Sodann kommt man auf die platanische „Intelligenz“ zu sprechen: Obwohl sie auch in diesem Jahr wieder stark gewachsen ist, lässt sie ihre Zweige doch nie niedriger als 1,90 Meter über den Erdboden hängen, so dass ihr niemand Blätter abreißt. Darüber hinaus wird ihr ausgeprägtes Gefühl für Symmetrie beim Wachsen gelobt.

Die tätowierte Frau macht sich Gedanken über die Betongewichte des Baukrans, die genau über der Baumkrone schweben: Das müsse doch einen negativen Einfluss auf den Lebenswillen der Platane haben, gibt sie zu bedenken. „Du hast wohl zu viel Walt Whitman gelesen“, wird ihr entgegengehalten. Aber sie meint, dass sie den überhaupt nicht kenne. Andererseits gibt sie zu, dass sie schon etwas übrig habe für „übersinnliche Kommunikation und dergleichen“. Ihre Platane, die stolzeste Zierde des Görlitzer Bahnhofs, schweigt dazu. Nur manchmal bewegt sie wie gedankenverloren den einen oder anderen Zweig.

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