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DiasporaFluchtpunkt Berlin

Sie alle mussten der Türkei den Rücken kehren. Aus verschiedenen Gründen, zu unterschiedlichen Zeiten. Vier Frauen, vier Geschichten

Westberlin, 70er-Jahre: Zwei Arbeiterinnen in der Siemensfabrik Foto: privat

Draußen fliegen Pollen wie Sommerschnee. Im Hof kreischen Kinder. Das Fenster im Rücken, wischt Ayşe Aniş* gedankenverloren Nachrichten aus der Türkei vom Display ihres Handys. In Ankara sind eine Akademikerin und ein Lehrer seit 76 Tagen im Hungerstreik, an diesem Maitag wurden sie verhaftet.

Ayşe Aniş hat das Haus am längeren Ende der Sonnenallee heute noch nicht verlassen. Sie sitzt in der Küche mit den sechs Uhren, die alle eine andere Zeit anzeigen – doch im Kopf ist sie 2.000 Kilometer weit weg.

Ayşe Aniş, 34 Jahre, Dokumentarfilmemacherin aus Istanbul, lebt seit sechs Monaten in Berlin. Der Gedanke, aus der Türkei wegzugehen, war schon vor dem Putschversuch am 15. Juli 2016 da. In den Monaten nach den niedergeschlagenen Gezi-Protesten 2013 war er im Gespräch mit ihren Freund*innen zum ersten Mal aufgetaucht.

Als in türkischen Städten 2015 Bomben explodierten, machten sich die Ersten davon. Auf Demonstrationen traf Aniş immer weniger Freund*innen. Wer in Istanbul blieb, schluckte die Wut über die Geschehnisse. Eine große Enttäuschung für Aniş, die von sich sagt, die Ereignisse um den Gezi-Park seien ein Wendepunkt in ihrem Leben gewesen – der Moment, in dem sie begriffen habe, wie stark sie sein können, wenn sie wollen.

Ayşe Aniş im Sommer 2013 bei den Gezi-Protesten Foto: özel

„Ich habe es nicht ertragen, dabei zuzusehen, wie die Energie von Gezi langsam verfliegt“, sagt Aniş und zieht an ihrer Zigarette. „Die Menschen haben angefangen, diesen Widerstandsgeist zu vergessen, weil jeden Tag etwas noch Schlimmeres passiert.“

Elisabeth Kimmerle

Jahrgang 1985, hat Germanistik, Philosophie und Journalistik in Freiburg, Istanbul und Leipzig studiert. Sie interessiert sich außer der Türkei unter anderem für Postkoloniale Theorien und Feminismus.

Als im Frühling 2016 zwischen zwei Anschlägen nur noch eine Woche lag und das Land in einen andauernden Ausnahmezustand glitt, drängte eine Freundin aus Berlin sie dazu, nach Deutschland zu kommen. Ayşe Aniş beschloss, nach Berlin zu fliegen, um sich die Stadt anzusehen. Am Tag vor ihrem Abflug sprengten sich am Atatürk-Flughafen in Istanbul drei Attentäter in die Luft. Der Gedanke, wegzugehen festigte sich. Zehn Tage blieb Aniş in Berlin, dachte sich, „hier könnte ich leben“.

Zwei Tage nach ihrer Rückkehr sperrten Panzer die Bosporusbrücke. Am Morgen nach dem Putschversuch fuhr die 34-Jährige mit dem Metrobus über die Brücke, und es war, als sei nichts gewesen, als hätte hier nicht in der Nacht zuvor eine aufgebrachte Menge Soldaten gelyncht.

Hals über Kopf

Da wurde ihr bewusst, dass sie nicht mehr in der Türkei leben will. Hals über Kopf beantragte sie ein Sprachvisum (das zum Aufenthalt in Deutschland berechtigt – Anm. d. Red.). Am 3. November 2016 ging sie aus Istanbul weg, aber in Berlin ist sie noch heute nicht angekommen. Als sei sie unterwegs verlorengegangen.

Ayşe Aniş ist eine von vielen, die es in der Türkei nicht mehr ausgehalten haben. Seit dem Putschversuch im vergangenen Jahr ist der Lebensraum für Regimegegner*innen immer enger geworden. Wer sich gegen die Repressionen auflehnt, landet im Gefängnis. In Berlin entsteht dadurch eine neue Diaspora gebildeter und politischer junger Menschen, die in der Türkei Arbeit, Freiheit und Hoffnung verloren haben. Hier treffen sie auf türkeistämmige Migrant*innen, die vor Jahrzehnten im Exil die gleichen Erfahrungen gemacht haben wie sie.

In der wechselvollen Geschichte der Türkei hat jedes Jahrzehnt seine eigene Migra­tions­welle hervorgebracht. Dem Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei folgten seit 1961 mehr als zwei Millionen Menschen, auf der Suche nach einer Perspektive.

Ihr Ziel war es, zwei Jahre in Deutschland zu arbeiten und sich mit dem verdienten Geld in der Türkei ein Leben aufzubauen. Nach dem Militärputsch von 1980 suchten die Oppositionellen Exil in Europa. Als in den frühen Neunzigern in den kurdischen Gebieten Krieg ausbrach, flohen die Kurd*innen.

All diese Menschen, die zu unterschiedlichen Zeiten und aus verschiedenen Gründen ihre Heimat verlassen haben, verbindet ein unsichtbares Band: die Zerrissenheit zwischen ihrem alten und ihrem neuen Leben; das Gefühl der Schuld, sich aus dem System befreit zu haben – und die anderen dort zurückgelassen zu haben.

Ein Hauch von Revolution

Ein Abend im Mai, die Straßen riechen nach Kirschblüten. Im Kino Moviemento läuft „Leben im Exil“, ein Film über den großen türkischen Filmmacher Yılmaz Güney, der 1981 aus dem Gefängnis nach Paris geflohen ist. Durch den kleinen Filmsaal weht ein Hauch von Revolution.Über die Leinwand flimmert eine grobkörnige Archivaufnahme in Schwarzweiß: Yılmaz Güney 1982 in Cannes, wo er als erster Regisseur aus der Türkei die Goldene Palme gewonnen hat. Am Ende seiner Rede reckt er die rechte Faust in die Luft und ruft: „Wir werden auf jeden Fall siegen!“

Im Publikum sitzt die 70-jährige Atiye Altül, ihre Augen leuchten. „Wir sind damals zu zwölft mit dem Auto von Berlin drei Tage unterwegs gewesen, um Yılmaz Güney in Cannes zu sehen“, erzählt sie nach dem Film draußen auf dem Kottbusser Damm, wo die Buchhandlung Kitapçı heißt und die Fleischerei Helal Et Pazarı. Türkische Geschäfte gehören hier zum Stadtbild. Als Altül herkam, war das anders.

Atiye Altül Anfang der 70er-Jahre in Westberlin Foto: privat

Westberlin, 1970: Als Atiye Altül mit einem Koffer voller Bücher übers Rollfeld am Flughafen Tempelhof lief, regnete es. Altül war 23, trug Seitenscheitel und hatte einen Gastarbeitervertrag bei Siemens in der Tasche. Doch Deutschland verhieß mehr als Fabrikarbeit: Altül war fest entschlossen zu studieren, für eine Frau aus armen Verhältnissen in der Türkei zu der Zeit kaum denkbar.

Ihren Mann und den fünf Monate alten Sohn hatte sie in Ankara zurückgelassen. Den Ehemann holte sie mit dem ersten Gehalt nach, der Sohn blieb bei Altüls Mutter. Im Gastarbeiterwohnheim war kein Platz für ein Kleinkind, wo hätte er in den zehn Stunden bleiben sollen, in denen sie jeden Tag in Siemensstadt Waschmaschinen verkabelte?

Als sie nach einigen Jahren aus dem Gröbsten heraus war und ihren Sohn zu sich holte, war sie eine Fremde für ihn. Altül schickte ihn zurück nach Ankara zu ihrer Schwiegermutter, die zu seiner Bezugsperson geworden war. „Die Kofferkinder dieser Generation, sie waren immer wie die Kinder von jemandem anderen. Das war sehr schwer für mich. Ich trage immer noch die Schuld mit mir herum“, sagt Altül 47 Jahre später in ihrem Wohnzimmer in Tempelhof.

Eine Enttäuschung

Westberlin war eine Enttäuschung. Die Toiletten auf halber Treppe. Die Menschen, die sie auf der Straße anzischten, wenn Altül sich mit einer Freundin auf Türkisch unterhielt: „Wir sind hier in Deutschland, hier wird Deutsch gesprochen!“, und denen sie stets erwiderte, sie seien „Faschisten“.

Im Morgengrauen aufstehen, arbeiten, abends erschöpft ins Bett fallen. Wollte Altül von Anfang an in Deutschland bleiben? Nein, sagt sie entschieden. Nach dem Studium wollte sie zurück in die Türkei, so wie alle anderen auch.

Doch dann begann sie ein Textildesign-Studium an der Hochschule der Künste, arbeitete als Sozialarbeiterin im Jugendfreizeitheim mit den Kindern der zweiten Generation türkischer Gastarbeiter, spielte am Grips-Theater, bekam ein zweites Kind in zweiter Ehe, schloss sich einer Gruppe von aus der Türkei emigrierten Maoisten an.

Demos und Alltag in Westberlin, 70er Jahre Foto: privat

Nachts liefen sie durch Berlin und schrieben „Weder Amerika noch Russland“ an die Hauswände, tagsüber demonstrierten sie gegen die Militärjunta, die sich am 12. September 1980 in der Türkei an die Macht geputscht hatte. „In der Zeit ist dort eine wunderbare Generation herangewachsen, die haben sie zerstört“, sagt Altül.

So vergingen die Jahre. Schleichend und ohne dass sie es selbst wahrnahm, hatte Altül sich in Berlin ein Leben eingerichtet. Das Ankara ihrer Kindheit verblasste und wurde zu einem Ort in ihrer Erinnerung. Sie war eine Fremde, hier wie dort. „15 Jahre lang habe ich mich so gefühlt wie in einem Hotelzimmer, ich habe auf gepackten Koffern gesessen“, sagt die 70-Jährige heute. Irgendwann stutzte sie und fragte sich, was sie hier eigentlich machte. In dieser Zeit fing sie an, sich Berlinerin zu nennen.

Untertauchen in der DDR

Am 12. September 1985, auf den Tag genau fünf Jahre nach dem Militärputsch – und etwa um die Zeit, in der Atiye Altül beschloss, in Berlin zu bleiben –, landete Kadriye Karcı mit falschen Papieren auf dem Flughafen Schönefeld in Ostberlin.

Hinter ihr lag eine abenteuerliche dreitägige Reise, die mit dem Gastarbeiterzug vom Bahnhof Sirkeci in Istanbul nach Sofia führte, wo sich die 24-Jährige zu einem konspirativen Treffen mit einem Kontaktmann einfand. Erst dort erfuhr Karcı, wo sie die nächsten Jahre untertauchen sollte – in der DDR. Wie war es dazu gekommen?

Die Suche nach einer Antwort führt zurück in die unübersichtlichen Zeiten nach dem Militärputsch in der Türkei im Jahr 1980.

Izmir am frühen Morgen des 12. September 1980. Als die Putschgeneräle im Staatsfernsehen ihre Machtübernahme verlesen ließen, ging Kadriye Karcı ins Badezimmer und verbrannte stundenlang Bücher im Heizkessel. Die Tochter eines belesenen Lkw-Fahrers und einer Hausfrau hatte sich ein Jahr zuvor der Fortschrittlichen Jugendvereinigung angeschlossen, einer legalen Jugendorganisation, die der verbotenen prosowjetischen Kommunistischen Arbeiterpartei der Türkei (TKP) nahestand.

Istanbul, am Morgen des 12. September 1980 Foto: Keystone/Hulton Archive/Getty Images

Die Wohnung, die sich Karcı mit zwei weiteren Mitgliedern der streng leninistisch strukturierten Jugendorganisation teilte, war eine politische Zelle – hochgefährlich für die drei. Nachdem sie alle riskanten Spuren in der Wohnung beseitigt hatte, beschloss Karcı, vorerst nicht mehr politisch aktiv zu sein. Die Militärjunta verhängte den Ausnahmezustand, Tausende Oppositionelle wurden verhaftet oder flohen ins Ausland.

Die 19-Jährige wollte studieren. 1982 schrieb sie sich an der Istanbul-Universität für Jura ein. Bis zum letzten Studienjahr hielt sie ihrem Vorhaben stand. 1984 gab sie dem Drängen der Jugendvereinigung nach, die im Ausnahmezustand verbotene Organisation wieder aufzubauen.

Razzien und Fahndungslisten

Bei einer großangelegten Polizeirazzia landete ihr Verlobter, ebenfalls Mitglied der Fortschrittlichen Jugendvereinigung, auf der Fahndungsliste und ging in den Untergrund. Karcı wurde zum Risiko für die Partei. Auch sie sollte von der Bildfläche verschwinden.

Mit ihrem Verlobten tauchte sie bei einem unverdächtigen Ehepaar im asiatischen Stadtteil Kadıköy unter. Ein halbes Jahr später stand ein Kontaktmann der TKP in der Wohnungstür. Die Partei, so teilte er ihnen mit, habe beschlossen, dass sie ins Ausland gehen sollten.

Ostberlin war ein Traum. Für Kadriye Karcı, die in der Türkei für eine sozialistische Gesellschaft gekämpft hatte, war die DDR eine Utopie. Das kostenlose Studium, die niedrige Miete, die internationale Solidarität. Sie lebte mit ihrem Verlobten und drei weiteren TKP-Mitgliedern zusammen, die ebenfalls in die DDR geflüchtet waren, und studierte marxistisch-leninistische Philosophie an der Humboldt-Universität.

Mit den DDR-Bürger*innen kamen die Exilant*innen kaum in Kontakt. Die SED behandelte sie wie informelle Diplomaten, vermittelte Wohnung, Studienplatz und Deutschkurs, hielt sie aber zur Geheimhaltung ihrer Identität an. Dass sie politische Flüchtlinge sind, erfuhr Karcı erst nach der Wende.

Bei einer Reise nach Moskau im Studentensommer 1987 dann zum ersten Mal Störgeräusche in der Internationalen. Blechhütten und bettelnde Kinder am Bahnhof. Wie waren solche Lebensverhältnisse im Sozia­lismus möglich? Die Utopie bekam Risse.

Sehnsucht nach Demokratie

Im Jahr darauf in Odessa, wieder beim Studentensommer, hörte Kadriye Karcı zum ersten Mal vom Ministerium für Staatssicherheit. Sie kehrte hellhörig nach Ostberlin zurück. Dass auch in ihrer Seminargruppe vier Mitglieder der Stasi saßen, wird sie erst im Nachhinein erfahren.

„Wir haben den Menschen vergessen. Die DDR hat die Grundvoraussetzungen für eine sozialistische Gesellschaft erfüllt. Aber der Mensch funktio­niert nicht so. Er braucht nicht nur kostenlose Bildung und Arbeit, sondern auch Freiheit und Demokratie“, sagt Kadriye Karcı rückblickend an einem Tag im Mai 2017 in ihrem Wohnzimmer in der sechsten Etage eines Plattenbaus in Mitte. Sie hat sich eine Selbstgedrehte angezündet. Während sie von den alten Zeiten erzählt, brennt die Zigarette im Aschenbecher herunter.

Ostberlin am Abend des 9. November 1989: Bei milder Westwetterlage sagte der 1. Vorsitzende der SED-Bezirksleitung Berlin, Günter Schabowski, live im Fernsehen jenen folgenschweren Satz – die Grenzen waren offen.

Ostdeutsche Grenzsoldaten schauen durch eine Maueröffnung Foto: ap

Kadriye Karcı, die mit ihrem Mann und dem frisch geborenen Sohn die Pressekonferenz in ihrer Wohnung in der Storkower Straße im Fernsehen sah, bekam Angst. Was passierte da? Während die Menschen an jenem Abend zu Tausenden nach Westberlin strömten, verließ Kadriye Karcı tagelang nicht das Haus. In ihr die Angst, dass das Militär übernimmt – und der leise Zweifel, ob das nicht vielleicht das Beste wäre. Sie hatte nie den Wunsch verspürt, in den Westen zu reisen. Nach fünf Jahren in der DDR befand sie sich wieder im freien Fall.

Als Kadriye Karcı das erste Mal 1991 nach sechs Jahren in die Türkei fuhr, waren ihr die Verhältnisse dort fremd geworden. Stundenlang streifte sie durch die Einkaufsläden. „Ich habe mich selbst nicht mehr erkannt. Wer bin ich denn? Was gefällt mir? Das war schockierend“, sagt die 56-Jährige heute. Da begann sie zu begreifen, dass die Parteistrukturen schlecht für sie gewesen waren.

Auch die Partei, in deren Hände sie als 24-Jährige ihr Leben gelegt hatte, war nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine andere geworden. „Plötzlich war alles schlecht, was wir gemacht haben“, sagt Karcı und streicht sich eine graue Locke aus der Stirn. Dann, um Worte ringend: „Ich bin mir nicht sicher, ob ich heute alles gleich machen würde wie damals. Aber unter den damaligen Bedingungen war ich überzeugt davon, dass ich das Richtige tue.“

Diren Aydıns Weg

Etwa ein Jahr später, im November 1992, stieg eine junge Frau namens Diren** aus dem Flugzeug in Hannover, um mit einem fremden Mann eine Familie zu gründen. Es war eine arrangierte Ehe, und in diesem Augenblick versuchte sie sich daran zu erinnern, warum sie hier war. Mit einem Mann, den sie nicht kannte, in einem Land, das ihr fremd war.

Diren Aydın**, geboren 1972 in einem südostanatolischen Dorf als Tochter alevitischer Kurden, wuchs mit der Hoffnung auf, dass eines Tages die Revolution ausbricht. Ihr Vater, im kurdischen Widerstand aktiv, hatte ihr beigebracht, dass sie keine Angst haben dürfe. Eines Tages, sagte sie sich immer wieder. Wenn sie als Kind die Fußtritte der Soldaten vor ihrem Fenster hörte. Wenn die Soldaten ihren Vater mitnahmen und er jedes Mal als „ein anderer“ zurückkam.

Eines Tages würde sich alles ändern. Wenn die Lehrerin ihr auf die Hände schlug, weil sie Kurdisch, die verbotene Muttersprache gesprochen hatte. Als nach dem Putsch in den frühen Achtzigern Kurden in der U-Haft verschwanden und Mädchen vergewaltigt wurden.

Eines Tages, dachte sie, wenn sie abends vor der Haustür saß und in die Berge blickte, werde auch ich dort kämpfen. „Wenn du in den kurdischen Gebieten lebst, schleicht der Tod ohnehin stets über die Gipfel. Er kann einen jederzeit anfallen, aber du weißt nicht, aus welcher Richtung.“

Doch es kam anders. Während in der Türkei Anfang der Neunziger mit Turgut Özal der erste kurdische Präsident an der Macht war, brach im Südosten der Krieg zwischen dem türkischen Militär und der kurdischen Arbeiterpartei PKK aus. Ganze Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht, Menschen verschwanden.

Als die Familie von Diren Aydın 1991 das Dorf bei Malatya verließ und nach Istanbul ging, waren die meisten schon geflohen. Auch in Istanbul gab es keine Perspektive für die 20-Jährige. Als der Kurde aus Deutschland um ihre Hand anhielt, zögerte Aydın nicht lange. Für sie war die Ehe der Ausbruch aus einem System, das sie nicht wollte. Eine Hoffnung, in einem anderen Land sie selbst sein zu können.

Diren Aydın in Göttingen, neunziger Jahre Foto: privat

Die Ehe scheiterte. An den rigiden Familienstrukturen der neuen Familie, die ihre Freiheit beschnitten. Und an Diren Aydıns Willen. „Es war schwierig für sie, einen Menschen wie mich zu akzeptieren. Ich bin ein bisschen rebellisch“, sagt Aydın heute mit rauer Stimme. Sie begriff, dass sie nicht werden konnte, wie die Familie sie haben wollte. Daran änderte auch die Tochter, die sie nach einigen Jahren auf die Welt brachte, nichts.

Also bereitete sich Aydın, die im Kfz-Betrieb ihres Mannes arbeitete, auf ein Leben ohne ihren Ehemann vor. Reparierte Dinge im Haus, brachte sich bei, auf eigenen Füßen zu ­stehen. Nach elf Jahren setzte sie ihren Mann an den Küchentisch und sagte ihm, dass sie sich trennen werde. Sie zog mit ihrer Tochter von Niedersachsen nach Berlin.

Berlin war eine andere Welt. Das Chaos. Allein mit ihrer Tochter, die ihr nicht glauben wollte, dass sie in Deutschland waren. Stundenlang blätterte Diren Aydın in den Gelben Seiten nach türkischen Namen und rief die Nummern an. Wenn jemand ans Telefon ging, sagte sie nichts und weinte still. Sie wollte immer zurück in die Türkei gehen, doch zuerst hatte sich ihr Mann gewehrt, und als er nicht mehr da war, ging ihre Tochter zur Schule.

Bilder von einsamen Frauen

„Jetzt bin ich 45 Jahre alt“, sagt Diren Aydın und geht in ihrer Dachgeschosswohnung an der Hermannstraße auf und ab, „und der Tag ist immer noch nicht gekommen.“ Ihre schmalen Gesichtszüge verhärten sich. An der Wand hängen ihre Ölbilder: Variationen von Frauen in der Natur, das Wasser bis zum Hals, weinend auf der Erde kauernd. Ein Versuch, der Einsamkeit von Frauen in dieser Gesellschaft Ausdruck zu verleihen. Aydın, die als Kind eine große Malerin werden wollte, erzählt in ihren Bildern die Geschichte der kurdischen Frauen.

Vor zwei Jahren hat sie das letzte Mal daran gedacht, in den kurdischen Widerstand zu gehen. Da lebte sie schon 23 Jahre in Deutschland und hatte eine 19-jährige Tochter. Die stellte eine Bedingung: „Wenn du gehst, komme ich mit.“ Das brachte Aydın nicht übers Herz. Und blieb.

An einem klaren Juni-Nachmittag steht Diren Aydın in einem Weddinger Hinterhof barfuß auf einem Kinderhocker und bemalt den Waschbeton mit Tieren. Die Hauswand gehört zu einer bilingualen Kita. Hier wird Deutsch und Kurdisch gesprochen – Türkisch ist verboten. „Ich freue mich so, dass die kurdischen Kinder hier ihre Muttersprache sprechen können“, sagt Aydın und reckt ihren Rücken.

Diren Aydın verschönert den Hof für die Kinder Foto: privat

Der Wind fährt durch die Bäume. Sie will etwas Fröhliches für die Kinder malen, die zu früh erwachsen werden. Von der Wand lachen Biene Maja, Willi und ein paar Ameisen. Mit einem Bekannten unterhält sie sich leise auf Türkisch, unterbricht sich selbst, redet auf Kurdisch weiter. Eigentlich ist es leichter für sie, Türkisch zu sprechen, aber das ist eine politische Entscheidung.

Diren Aydın wartet aus der Ferne auf den Tag, der alles ändern wird. In Berlin ist sie ständig auf der Straße, um gegen das Unrecht in der Türkei zu demonstrieren. Und verzweifelt daran, dass die Proteste hier nichts nützen.

Atiye Altül verbringt die Sommermonate in der Türkei. Dort vermisst sie Berlin. Sie glaubt immer noch, dass der Sozialismus eines Tages kommen wird.

Kadriye Karcı hält nichts davon, die Türkei aus der Ferne zu retten. Sie versucht als Alt­berlinerin, der neuen Diaspora in Berlin mit ihrem Wissen und ihren Kontakten zu helfen.

Und Ayşe Aniş wünschte, sie könnte etwas tun. Wenn nur jemand mit einem Plan käme und ihr sagte: „Ayşe, komm, wir machen das. Wir brauchen dich“ – sie würde sofort zurückgehen.

Phantomschmerz

Was bleibt, ist ein Phantomschmerz. „Meine Freunde in der Türkei sagen zu mir, dir geht es dort gut. Du denkst, mit ein paar Aufrufen auf Facebook kommt die Revolution“, sagt Diren Aydın. „Nur ein Freund aus Istanbul hat einmal zu mir gesagt: Ihr tut mir leid, Diren! Dauernd seid ihr auf der Straße und demonstriert. Ihr habt überhaupt kein Leben mehr.“

Das Gefühl, die Menschen in der Türkei im Stich gelassen zu haben, verbindet die unterschiedlichen Generationen der türkeistämmigen Diaspora. „Man fühlt sich wie ein Verräter. Ich habe mich in Sicherheit gebracht, sagst du dir“, sagt Atiye Altül.

Als 1999 ein verheerendes Erdbeben die westtürkische Stadt Izmit zerstörte, war Altül in Berlin zwölf Stunden ohne Unterbrechung auf den Beinen, um Hilfe zu organisieren. „Nicht in den guten Zeiten, in den schlechten Zeiten will man dort sein“, sagt sie.

Von der Ferne zu beobachten, was in der Türkei passiert, ist schwer auszuhalten, sagt auch Ayşe Aniş. „Du verfolgst ständig die Nachrichten und denkst dir: Ich sollte jetzt dort sein.“ Dabei weiß sie, dass sie dort auch nichts tun könnte. „Wer gegen das Regime protestiert, landet im Gefängnis. Welchen Nutzen hätte es für das Land, wenn ich im Gefängnis bin?“, fragt Aniş und fügt schnell hinzu, dass sie es nicht falsch finde, wenn Menschen in der Türkei Widerstand leisteten.

Abschiedsparty in Istanbul

Sie respektiere die Akademikerin und den Lehrer, die inzwischen seit mehr als 120 Tagen im Hungerstreik sind. „Aber warum opfern wir uns auf im Kampf für Gerechtigkeit in einem Land, in dem es keine Gerechtigkeit gibt? Ich kann nicht so weit gehen wie sie und den Tod in Kauf nehmen.“

Im April 2017, kurz vor dem Referendum in der Türkei flog Ayşe Aniş noch einmal nach Istanbul zu einer Abschiedsparty. Ein letztes Zusammentreffen im Freundeskreis. Überall hingen riesige Erdoğan-Plakate.

In Berlin waren die Tage leer, niemand rief an. In der Türkei hatte ihr Telefon pausenlos geklingelt, manchmal hatte sie zwischen zwei Recherchereisen noch nicht einmal Zeit, ihre Wäsche zu waschen. Sie vergaß, warum sie weggegangen war. War es in Istanbul vielleicht doch besser? Ihre Freund*innen in Istanbul sagten: „Mach keinen Unsinn, komm nicht zurück, wir gehen alle.“

Zurück in Berlin dachte sie daran, was ihr eine Freundin geantwortet hatte, als sie erzählt hatte, sie sei nie in Deutschland angekommen: „Ayşe, dann komm jetzt nach Berlin.“

Welcome to Berlin

An einem schwülen Juniabend kurz vor Mittsommer sitzt Ayşe Aniş vor einem Späti am Kottbusser Damm, Ecke Schinkestraße und schüttet sich einen kurzen Gorbatschow in die Club-Mate-Flasche. Im Radio spielt psychedelische türkische Rockmusik.

„Excuse me, do you speak English“, fragt eine junge Israelin mit blondiertem Undercut. Sie ist neu in Berlin und braucht Hilfe mit ihrer Simkarte. Aniş kennt sich aus mit deutschen Simkarten. Sie tippt die Nummer ins Display ein, es funktioniert nicht. Die Israelin stöhnt: „Why do Germans have to make everything so complicated?“ Ayşe Aniş lacht: „You will get used to it. Welcome to Berlin.“

*Name geändert; die Protagonistin erklärt, warum: „Die türkische Regierung hat alle, die gegen sie sind, zur Zielscheibe gemacht. Selbst wenn ich nicht mehr in der Türkei lebe, möchte ich deshalb nicht mit meinem echten Namen genannt werden, um meine Familie zu schützen.“

** Name von der Redaktion geändert

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