piwik no script img

Sommer der Technophilie

IMMERSIONDie Berechnung der Welt hat durch digitale Algorithmen ihren bisherigen Höhepunkt gefunden. Gedanken anlässlich einer Veranstaltungsreihe im Martin-Gropius-Bau zum „Eintauchen“ in die digitale Welt

Immersive Kunstwerke verwandeln Ideen angeblich in senso-rische Erfahrung

von Helmut Höge

Mitte des 19 Jahrhunderts beklagte der österreichische Idylliker Adalbert Stifter, dass selbst die kleinste Landstadt „in den allgemeinen Verkehr gerissen“ wird. 100 Jahre später nannte der bayerische Filmemacher Herbert Achternbusch diesen Verkehr Welt: „Da wo Deggendorf und Passau war, ist jetzt Welt. Die Welt hat uns vernichtet, das kann man sagen.“

Diese Entwicklung begann mit der Heiligung von Zahlen – bei den Pythagoreern. Heute ist mindestens in der „Weltstadt“ alles Mathematik: Häuser, Straßen, Kleidung, Fahrzeuge, sogar Pflanzen und Tiere. Ein Algorithmus – bei dem jeder mit muss! Das heißt: Man muss absolut modern sein! Oder wenigstens akzeptieren, dass die Gesetze komplexer Systeme unabhängig von dem Stoff, aus dem sie gemacht sind – also auf Tiere, Computer und Volkswirtschaften – gleichermaßen zutreffen. Man kann sogar einen philosophischen Mix aus ihnen machen.

Die Smart-Bachelor-Generation neigt dazu, dies mindestens auf ihren temporären „Dörfern der Jugend“ spielerisch zu nehmen. Eins von vielen Beispielen: Im niedersächsischen Lehrte findet im August erneut ein sogenanntes „Fuchsbau Festival“ statt, die Veranstalter, Kultur- und Sozialwissenschaftler, rufen: „Kommet zusammen, ihr digitalisierten Seelen! Wir programmieren uns gegenseitig zu Liebesmaschinen … Ihr einsamen Menschen und gefühlvollen Cyborgs, reibt euch den Schlafsand aus den viereckigen Augen und schreitet mit uns gen technischer Utopie!“ Da ist ironischerweise viel selbstorganisierte „Art of not being governed“ bei.

Anders im staatlich finanzierten Haus der Kulturen der Welt, wo zur gleichen Zeit eine weitere Veranstaltung im Rahmen seines „Technosphere-Projekts“ stattfindet. Diesmal werden einige Schlüsselmomente und -themen diskutiert, welche die sogenannte Technosphäre bestimmt haben – unter anderem Switches, Hydrocarbons (Kohlenwasserstoff) und Seeds (Gentechnik).

Aber schon ab Samstag (1. 7.) offeriert der Martin-Gropius-Bau im Rahmen der Berliner Festspiele eine Veranstaltungsreihe zum „Eintauchen“ („#immersion“) – in die „virtuelle Welt“. Das Programm nennt sich „Limits of Knowing“. Gegen diese Grenzen unseres Wissens will man dort „interdisziplinär“ angehen: „Die unpopulären Kompetenzen in unserer Wissensgesellschaft, wie Ahnung, Befremden und Verblüffung, führen die BesucherInnen in Tiefen künstlerischer, wissenschaftlicher und philosophischer Fragen.“

Nun kann man sagen: Das verspricht inzwischen jeder Holzschnitzer und Porzellanmaler, zu schweigen vom Zirkus Roncalli. Hier geht es nun aber um die versuchsweise Beantwortung dieser Fragen „mithilfe neuester technischer Geräte: mit Sensoren ausgestatteter Kleidung, Smartphones, Apps und VR-Brillen“. Dabei verwandeln diese „immersiven Kunstwerke“ angeblich „Ideen in sensorische Erfahrung, Konzepte in ,empfundenen' Sinn“ und hinterfragen so „unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit“. Doch wollen wir das überhaupt? Nehmen wir die berühmte „Wirklichkeit“, in der jeder und alle rumrühren, nicht schon mit genug „Fragen“ wahr – im Sinne von „Problemen“? Ja, nehmen wir sie überhaupt noch wahr – oder für wahr?

Und können uns die neuesten Highflyer-Gadgets der Big Five des Silicon Valley in dieser Hinsicht eines Besseren belehren? „Go in instead of look at“ (sinngemäß: Streif sie dir über diese Technoprothesen und guck sie nicht nur an!) Dieses Mitmachmotto des US-Künstlers Allan Kaprow ist laut dem Flyer der Veranstalter „das ästhetische und gesellschaftspolitische Leitmotiv der ,Immersion‘.“

Dabei kommt dem Einsatz von Technoprothesen, mindestens bei den vier „Haupt-Acts“, unterschiedliche Bedeutung zu: Bei der postdramatischen Theatergruppe Rimini Protokoll werden „acht immersive Räume“ durch „Stimmen, Objekte und Bilder“ ergänzt. Es scheint da noch eine Art Urvertrauen in den „Logos“ zu herrschen, als dieser noch Wort, Lehre, Vernunft bedeutete. Ganz anders die Inszenierungskünstlerin Mona el Gammal: Sie erweitert mit ihrer 360-Grad-Projektion „Rhizomat VR“ den Erzählraum, um „aus dem physischen in den digitalen Raum“ zu gelangen – was als eine ungewöhnliche Form von „politischem Thea­ter“ bezeichnet wird. Und womit wir wieder bei den Gefühlen wären, denn für die Veranstalter ist das Theater seit seinen Anfängen bereits ein „Gefühlsbestimmer“ und hier geht es jetzt um neue Gefühle – frisch aus dem Silizium-Tal.

Der Kulturwissenschaftler Peter Berz erinnerte bereits daran: „Fast alles, was wir sagen, senden, wahrnehmen, zu sehen geben und sehen, hören und zu Gehör bringen, läuft als Silizium: in digitalen Maschinen, Interfaces, smart objects … Wenn Wahrnehmen – neben Bewegung, Molekültransport, Biosynthese – Teil des Stoffwechsels ist, dann verstoffwechselt unsere Wahrnehmung also Silizium“: Sand quasi. Die neuen Gefühle sind auf Sand gebaut, das kann man sagen. Die Veranstaltung im Gropiusbau wäre demnach ein Sandkastenspiel.

Zur „#immersion-Reihe gehört auch noch eine App zur Voraussage der nächsten „elektromagnetischen Wolke“, entwickelt vom weltweit museums­erprobten Team Lundahl & Seitl. Daraus soll sich ein Flashmob entwickeln, der diese „Un­known Cloud“ aufspürt und ihr durch die Stadt folgt. Wer sich dieser „diversen Erlebnisgemeinschaft“ anschließt, trägt dazu bei, den hyperrealen Traum von einer nomadischen „Community“ zu verwirklichen. Versprochen!

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen