Zusammenleben am Leopoldplatz: „Plätze sind Bühnen des Stadtlebens“
Gestört zu werden, gehöre zum Stadtleben dazu, sagt Stadtforscher Stephan Lanz. Wer wie öffentlichen Raum nutzt, sei auszuhandeln.
taz: Herr Lanz, welche Funktion haben Plätze in der Großstadt?
Stephan Lanz: Plätze sind die urbanen öffentlichen Orte par excellence. Alle sozialen Gruppen sollten dazu Zugang haben. Es sind Bühnen, auf denen sich das städtische Leben in all seiner Vielfalt und Dichte zeigt. Plätze haben aber auch eine repräsentative Funktion: Es gibt Kirchplätze, Schlossplätze, Rathausplätze mit Monumenten, an denen sich die dominierenden Gruppen einer Stadt oder einer Nation repräsentieren. Es kommt häufig zu Konflikten, wenn Gruppen einen Platz nutzen, die wegen der repräsentativen Funktion dort nicht erwünscht sind. Oder weil sich bessergestellte Gruppen gestört fühlen.
Am Leopoldplatz sagen Anwohner, die Trinker- und Drogenszene sei so präsent, dass sie nicht mehr ungestört einkaufen oder zur U-Bahn gehen könnten.
Das ist ein klassischer Nutzungskonflikt. Der Leopoldplatz ist ein sehr zentraler Ort in einem Stadtteil, wo viele ärmere und diskriminierte Gruppen leben. Gerade sie nutzen Plätze mehr als andere, weil sie keine Infrastruktur haben oder kein Geld, sich andere Orte anzumieten.
53, ist Stadtforscher an der Viadrina-Universität in Frankfurt an der Oder.
Wie können solche Nutzungskonflikte vermieden werden?
Zum einen kann man den Platz sinnvoll gestalten. Auch am Leopoldplatz ist ja versucht worden, für die unterschiedlichen sozialen Gruppen unterschiedliche Orte einzurichten, damit sie den Platz gleichzeitig nutzen können. Zum anderen kann man Quartiersmanager oder Streetworker beschäftigen, die Konflikte moderieren.
Soziologen sagen, Gleichgültigkeit sei urbane Tugend: Städtern sind die Verhaltensweisen anderer häufig egal, das macht sie tolerant.
Auszuhalten, dass Menschen einem sehr nahe rücken, obwohl sie ganz anders drauf sind – ohne diese Fähigkeit wäre städtisches Leben nicht denkbar. Das ist die dritte Option, die die Politik hat: Sie kann darüber aufklären, dass ein bestimmtes Level an Gestörtwerden zum städtischen Leben dazugehört.
Am Leopoldplatz reicht diese Erklärung manchen nicht mehr. Wo sind die Grenzen der urbanen Gleichgültigkeit?
Wenn es Übergriffe gibt, muss die Politik einschreiten. Oder wenn es beständige Versuche einer Gruppe gibt, Plätze einzunehmen, anderen wegzunehmen, also de facto zu privatisieren. Wann man einschreitet, ist dann aber eine Frage des gesellschaftlichen Aushandelns. Die Toleranzschwellen sind je nach Stadtteil sehr verschieden. An einem Ort wie dem Kottbusser Tor wissen alle, die sich dort aufhalten, dass es ein von extremst verschiedenen Leuten genutzter Ort ist. Wer dort lebt, ist eher bereit, Konflikte zu ertragen. In bürgerlicheren Kiezen – vor allem in denen, die erst kürzlich gentrifiziert wurden – gibt es dagegen häufig eine viel größere Intoleranz, beispielsweise in Teilen des Prenzlauer Bergs.
Wenn sich etwa eine Trinkerszene ausbreitet – müssen dann die Bezirksämter gerade in armen Vierteln nicht etwas tun, um eine Negativspirale für den Kiez zu verhindern?
Das ist die Broken-Windows-Theorie, der zufolge auch eine kleine Verwahrlosung eine größere Verwahrlosung nach sich zieht. Diese Theorie wurde von reaktionären Kreisen in den USA erfunden, es gibt für sie keinerlei empirische Belege. Was aber klar ist: Wenn bestimmte Orte permanent unter drastischen Konflikten leiden, meiden Menschen diesen Ort und ziehen weg. Es bleiben die, die sich nichts anderes leisten können. Insofern hat die Politik schon eine Verantwortung, darauf hinzuwirken, dass so etwas nicht passiert.
Mehr über den Leopoldplatz, die Geschichte des Konflikts und Versuche ihn zu lösen gibt es im Berlin-Teil der taz.Am Wochenende. Im Print- oder Digi-Abo oder an Ihrem Kiosk.
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