piwik no script img

Angst vor AbschiebungLiegt Berlin in „Bleibistan“?

Berlin will zwar nicht nach Afghanistan abschieben, Ausreiseaufforderungen verschickt das Land trotzdem. Unter afghanischen Flüchtlingen sorgt das für Panik.

Abschiebung aus Deutschland Foto: dpa

Als der Ablehnungsbescheid kam, sei ihm schwindlig geworden. „Ich war so geschockt, ich wusste nicht, wohin mit mir selbst“, sagt Jamsheed Haqiqat. Der Brief habe ihn in frühere Angstzustände zurückgeworfen. „Nachts bin ich schweißgebadet aufgewacht oder habe im Schlaf geschrien, ich konnte nichts essen und hatte ständig Angst, dass die Polizei kommt.“

Seit zwei Jahren lebt der 30-jährige Systemadministrator aus Afghanistan mit seiner Familie in Berlin, sie haben eine eigene Wohnung gefunden, die Kinder sprechen inzwischen genauso gut Deutsch wie Dari. In Afghanistan habe er für die Amerikaner gearbeitet, erzählt Haqiqat, daher fühle er sich dort nicht sicher. Er habe Drohungen erhalten und sei von einem Motorrad aus angegriffen worden.

Abschiebestopps

Offiziell hatte bisher nur Schleswig-Holstein Abschiebungen nach Afghanistan für drei Monate ausgesetzt. Berlin schob weder 2016 noch 2107 direkt nach Afghanistan ab, doch mussten elf Afghanen in andere europäische Länder ausreisen. Skandinavische Länder schieben derzeit selbst Familien nach Afghanistan ab, Initiativen kritisieren, dass Berlin sich indirekt daran beteilige.

YAAR e. V. im Wedding und der „Verein iranischer Flüchtlinge“ in Neukölln bieten Beratungen für Flüchtlinge aus Afghanistan an.

Mit der Kampagne „#Bleibistan“ kämpft das „Berliner Bündnis gegen Abschiebungen“ für ein Bleiberecht. Heute soll von Frankfurt aus die mittler­weile sechste bundesweite Sammelabschiebung nach Afghanistan beginnen. Das Bündnis ruft zu einer Kundgebung um 15 Uhr vor der Afghanischen Botschaft in der Taunusstraße in Grunewald auf.(usch)

Angst in der Community

Mit seinem Briefumschlag aus abgegriffenem Packpapier, darin der rund 16-seitige Ablehnungsbescheid, sein Asylantrag und Zeugnisse, sitzt Haqiqat an einem Dienstagmorgen im YAAR im Wedding. Der Verein bietet zweimal pro Woche asylrechtliche Beratungen für Flüchtlinge aus Afghanistan an – und hat damit zurzeit viel zu tun. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) verschickt derzeit die Bescheide für Flüchtlinge aus Afghanistan – darunter viele Ablehnungen. Und obwohl aus Berlin bisher niemand direkt nach Afghanistan abgeschoben worden ist, sorgt dies für Angst in der Community.

„Es ist zurzeit die Frage aller Fragen“, sagt Hamidullah Has­sanzadeh, 21 Jahre, der ebenfalls seit zwei Jahren in Berlin lebt. Im Februar hat er einen Ablehnungsbescheid bekommen, so wie viele seiner Freunde. „Egal wen man trifft“, sagt er, „alle begrüßen sich mit: Hallo, wie geht’s, hast du einen positiven oder negativen Bescheid bekommen?“ Hassanzadeh begleitet heute selbst nur einen Freund, der sich beraten lässt. „Ich versuche, mir nicht zu viele Sorgen zu machen“, sagt er.

Kaum Vertrauen in Behörden

Doch das Vertrauen vieler Geflüchteter in die Behörden ist nicht besonders groß. „Ich habe gehört, dass die Grünen und die Linken nicht abschieben wollen, aber ich bin nicht sicher, ob das reicht“, sagt Hassanzadeh. „Thomas de Maizière sagt, es ist sicher in Afghanistan, man kann uns abschieben.“

Im Berliner Koalitionsvertrag heißt es: „Rückführungen in Regionen, in die Rückführungen aus humanitären Gründen nicht tragbar sind, wird es nicht mehr geben.“ Innensenator Andreas Geisel (SPD) stehe dazu, bestätigt die Innenverwaltung, und bisher saß noch niemand aus Berlin in einem der monatlichen Sammelabschiebungsflüge von Deutschland nach Kabul.

Kein genereller Abschiebestopp

Berlin hat aber keinen generellen Abschiebestopp verhängt – weder für Afghanistan noch für andere Staaten. „Bei jeder Abschiebung findet eine gründliche Abwägung des Einzelfalls statt. Straftäter und/oder Gefährder sollen auch weiterhin abgeschoben werden können, auch nach Afghanistan“, teilt ein Sprecher der Innenverwaltung mit.

30 Tage Zeit

Die Bescheide erzeugten unter den Asylsuchenden Unruhe und Panik, erzählt Amei von Hülsen-Poensgen von Willkommen im Westend – auch wegen der scharfen Formulierungen: „Da steht dann drin, dass die Menschen 30 Tage Zeit hätten und dann die Abschiebung drohe, viele verstehen das so, dass sie sofort ausreisen müssen“, sagt sie. Sie versuchten vor allem, den Menschen zu erklären, wie sie dagegen vorgehen könnten. „Die meisten Afghanen werden hierbleiben“, sagt sie. „Aber diese Ablehnungsbescheide verunsichern alle, sie halten die Menschen in Panik und machen ihnen das Leben schwer.“ Vom Senat hätten sie sich mehr erhofft als diese „Nichthaltung“.

Der Senatsverwaltung für Integration scheint diese ebenfalls nicht auszureichen. In einem offenen Brief hatte sich der Integrationsbeauftragte Andreas Germershausen vor einer Woche an die Initiativen in Berlin gewandt und bedauert, dass es bisher keinen förmlichen Abschiebestopp aus Berlin gebe. „Als Integrationsbeauftragter würde ich eine Lösung, mit der die Betroffenen und Sie alle eine noch größere Klarheit hätten, selbstverständlich bevorzugen“, schreibt Germershausen.

Flüchtlingsrat fordert Stopp

„Der Innensenator sollte sich bei der Innenministerkonferenz Mitte Juni für einen bundesweiten Abschiebestopp nach Afghanistan einsetzen“, fordert Katharina Müller vom Flüchtlingsrat. „Es wäre wünschenswert, wenn dort auch eine rot-rot-grüne Politik erkennbar würde.“

Ein wirklicher Paradigmenwechsel in der Abschiebepolitik, wie im Koalitionsvertrag angekündigt, sei bisher nicht erfolgt. „Dazu müssten die Linken und die Grünen sich stärker öffentlich positionieren und auch politisch den Streit mit der SPD suchen. Sie signalisieren uns zwar, dass sie unsere Forderungen unterstützen, aber mal ein netter Brief an uns reicht nicht aus.“

Hoffnung zerstört

Anstatt dauernd angstvolle Menschen zu beruhigen und Anwälte zu vermitteln, würde er lieber mehr Kulturarbeit machen, sagt Kava Spartak vom Verein YAAR. Die Menschen seien von Seiten der Behörden viel Druck und Verdächtigungen ausgesetzt. Doch in den meisten Fällen sei eine Klage aussichtsreich. „Die Bescheide vom Bamf sind teilweise so schlampig, dass sich die Anwälte oft schon Erfolg beim Verwaltungsgericht versprechen“, sagt er.

„Ich habe vieles verloren und mein früheres Leben aufgegeben, um hier eine gute Zukunft und ein gutes Leben für meine Kinder zu finden“, sagt Haqiqat. Dass seine Familie in Berlin zur Ruhe gekommen sei und neu anfangen konnte, habe ihm Hoffnung gemacht. Der Schock durch die Ablehnung hat diese erst mal wieder zerstört.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!