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Kommentar Wahl in GroßbritannienBrexit war gestern

Dominic Johnson
Kommentar von Dominic Johnson

Über Europa herrscht Einigkeit. Deshalb rücken im Wahlkampf andere Themen in den Blickpunkt. Für Theresa May wird das zum Problem.

Überraschende Wende: Theresa May (rechts) geht noch mal zur Schule Foto: reuters

M it dem Anschlag von Manchester ist der Terror in die britische Politik zurückgekehrt. Plötzlich reden alle nur noch über die innere Sicherheit und den hausgemachten Islamismus. Es sind vertraute Fragen: Wenn der Täter polizei- und geheimdienstbekannt war, hätte man den Anschlag verhindern können? Gibt es Defizite bei Ausstattung und Kompetenzen von Polizei und Geheimdiensten? Und hat es irgendetwas mit der britischen Außenpolitik zu tun, vor allem in Libyen?

Großbritanniens vorgezogene Parlamentswahlen am 8. Juni sind keine zwei Wochen mehr entfernt, und solche Fragen sind als Wahlkampfthemen schwierig. Zu einhellig ist der nationale Konsens gegen den Terror. Für die konservative Premierministerin und langjährige Innenministerin Theresa May ist eine Terrordebatte ein Heimspiel – und für Labour-Opposi­tions­führer Jeremy Corbyn, einen langjährigen Sympathisanten der IRA, ist es seine Achillesferse.

Um so paradoxer ist es, dass in dieser Woche etwas Seltsames passiert: Mays uneinholbar geglaubter Vorsprung in den Umfragen schmilzt, Labour holt stetig auf. Wie kommt das?

Als May direkt nach Ostern die vorgezogenen Neuwahlen ansetzte, ging es ihr vor allem um eines: ihre schma­le Mehrheit im Parlament auszubauen, um bei den anstehenden Brexit-Verhandlungen mit der EU gegen Überraschungen und Abweichler in den eigenen Reihen gefeit zu sein. Die tiefe Krise der nach links gewendeten Labour-Opposition unter Jeremy Corbyn, die neue Schwäche der ausschließlich auf ein zweites Unabhängigkeitsreferendum fixierten schottischen Nationalisten, das Verschwinden der dank Brexit überflüssig gewordenen Anti-EU-Partei Ukip – all dies war die perfekte Vorlage für einen hohen konservativen Sieg: die Parlamentswahl als Abstimmung über das Vertrauen in die ­Premierministerin.

taz.am wochenende

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Mays Glaubwürdigkeitsvorsprung in Sachen Brexit ist unangefochten. Aus dem Referendumswahlkampf 2016 hielt sie sich heraus. Ihr Bestreben, den Brexit jetzt ohne Widerworte umzusetzen, kommt als Ausdruck von Uneigennützigkeit, Pflichtbewusstsein, Respekt vor dem Wählerwillen gut an. Niemand hat im Wahlkampf versucht, Mays Mantra von einer „starken und stabilen Führung“ als Voraussetzung eines erfolgreichen Brexit wirklich zu widersprechen.

Die Entscheidung ist gefallen

Der Versuch der proeuropäischen Liberaldemokraten, mit einer Pro-EU-Haltung zu punkten, ging nach hinten los: Die Briten wollen keinen neuen Brexit-Streit. Die Entscheidung ist gefallen, jetzt soll man sie umsetzen, und in allen politischen Lagern trauen die Leute May zu, sich am hartnäckigsten und kompetentesten für britische Interessen in Europa einsetzen zu ­können.

Wenn aber über den Brexit breiter Konsens herrscht, fällt der Brexit als Wahlkampfthema flach, obwohl er die Begründung für die Wahl ist. Damit rücken andere Themen in den Blickpunkt, und da steht die Sicherheitspolitikerin May plötzlich wacklig da: Pflegenotstand, Erbschaftsteuer, Schulpolitik.

Es geht ganz banal um britische Innenpolitik

Und mit dem Anschlag von Manchester gibt es wieder ein neues Thema – aber es führt nicht zum Brexit zurück, sondern noch weiter weg. In Sachen Terrorbekämpfung und Geheimdienstarbeit spielt der EU-Austritt keine Rolle, denn da soll die Kooperation zwischen Großbritannien und der EU unvermindert weitergehen. Es geht wieder ganz banal um britische Innenpolitik – und nicht um die Agenda, um die herum May ihren Wahlkampf aufgebaut hat.

Mit dem faktischen Ausnahmezustand auf Londoner Straßen geht der Ausnahmezustand in der britischen Politik zu Ende. Die Phase, in der Europa alles dominierte, ist vorbei. Noch vor dem formalen Brexit, also dem Austritt Großbritanniens aus der EU, kommt der mentale Brexit, also die Loslösung der britischen politischen Debatte von der Fixierung auf Europa. Je ausschließlicher Theresa May für sich mit dem Brexit-Thema wirbt, desto mehr Wähler fragen sich, ob diese Premierministerin auch für die anderen Themen die Richtige ist.

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Dominic Johnson
Ressortleiter Ausland
Seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.
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15 Kommentare

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  • 6G
    60440 (Profil gelöscht)

    May könnte die absolute Mehrheit sogar einbüßen und die Wahl verlieren:

    http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/neue-wahlumfrage-mays-demenzsteuer-verschreckt-waehler-15040314.html

     

    Nachdem Cameron in völlig unverantwortlicher Weise die Zukunft des Landes aufs Spiel gesetzt hat und sich selbst gleich mit entsorgte, macht seine Nachfolgerin den gleichen Quatsch.

    Die Konservativen können es offenbar nicht.

    May und Cameron können dermaleinst darum streiten, wem von beiden der Platz als schlechtester Premierminister der Neuzeit gebührt.

  • 6G
    60440 (Profil gelöscht)

    Europa, Europa, Europa.

    Mit jedem Tag Trump, mit jedem Tag Brexit wächst die Einsicht auf der Insel, dass Frankreich es besser getroffen hat, indem es die sinnfreien Antieuropäer in die Wüste geschickt hat, links wie rechts. Man soll den Gedanken nicht aufgeben, dass es einen Exit vom Brexit geben wird, auf der Insel der Unseligen ....

    • @60440 (Profil gelöscht):

      "Der Versuch der proeuropäischen Liberaldemokraten, mit einer Pro-EU-Haltung zu punkten, ging nach hinten los: Die Briten wollen keinen neuen Brexit-Streit. Die Entscheidung ist gefallen..."

       

      Manchmal reicht es, einfach den Artikel zu lesen.

      • 6G
        60440 (Profil gelöscht)
        @warum_denkt_keiner_nach?:

        Ich habe so gedacht wie Sie, klein wie ich mal war: Die Wahrheit steht in der Zeitung. Und das Unabänderliche bleibt unabänderlich.

        Dann kam der 9. November 1989 und seitdem ist alles anders ...

        • @60440 (Profil gelöscht):

          In den Zeitungen steht nicht unbedingt die Wahrheit. Aber sie sind nun mal eine wichtige Quelle. Zugang zu Geheimdienstinformationen habe ich keine.

           

          Nichts deutet darauf hin, dass man mit pro EU Parolen z.Z. in GB eine große Zahl Wähler anlocken kann. Besonders wenn man bedenkt, dass das britische Wahlsystem eines sehr große Zahl Wähler erfordern würde.

           

          Das Sie sich auf 1989 beziehen, zeigt nur, dass Sie die damaligen Ereignisse nur aus der CDU Parteigeschichte kennen. Schon weil Sie offenbar den 9.11. für den wichtigsten Tag halten...

          • 6G
            60440 (Profil gelöscht)
            @warum_denkt_keiner_nach?:

            Gestern noch, so haben Sie es den Zeitungen entnommen und gleich weitergegeben, war May haushohe Favoritin. Heute schmilzt der Vorsprung rapide.

            Gestern noch gab es eine Staatspartei, die mit Stasispitzeln, Volkspolizei und Betriebskampfgruppen einen ganzen Staat im Würgegriff hielt bis alles in sich zusammenbrach.

            (Was das mit CDU_Parteigeschichte zu tun hat bleibt unerfindlich.)

            Macron hat in Frankreich eindrucksvoll bewiesen,. dass man mit einem Proeuropawahlkampf aus dem Nichts französischer Präsident werden kann, wobei mal eben die traditionelle Parteienlandschaft durcheinandergwirbelt wurde.

            In England haben 48 % für den Verbleib in der EU gestimmt. Sind diese Menschen verschwunden ?

            Kennen Sie die LibDems ? Gab schon Erfolge für sie bei Nachwahlen nach dem Brexit. Mit einem stark europafreundlichen Kurs.

            Das Problem in Klein-Britannien ist ja, dass es eine weit unterdurchschnittlich "befähigte" Premierministerin gibt und einen Oppositionsführer, der ihr in nichts nachsteht.

            Wäre Corbyn nicht so verbohrt wie Ihr geliebter Melenchon, er könnte die Wahl gewinnen.

            Dazu sollte er nicht auf innere Sicherheit setzen, sondern zB. den umsichgreifenden Rassismus und Chauvinismus bekämpfen, ganz sicher direkte Folgen des Brexit. Und dazu gehört eine proeuropäische Haltung.

            Und natürlich ist es ganz und gar nicht ausgeschlossen, dass es eine erneute Abstimmung über Europa geben wird. Warum auch nicht ? Weil die kleinkarierte May es so befohlen hat ?

            Denn: Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs und Esel auf. Und natürlich steht die Mauer noch 100 Jahre.

            Stand alles in den zeitungen ...

            • @60440 (Profil gelöscht):

              Sehen Sie. Wieder fehlt es bei Ihnen an Grundwissen. Warum konnte wohl die DDR Führung 1989 die Betriebskampfgruppen und ihre anderen Machtmittel nicht wirkungsvoll gegen das Volk einsetzen? Weil der Machtapparat in einem Jahre währenden Prozess ausgehöhlt war. Für einen schnellen Umschwung taugt die DDR nun wirklich nicht als Beispiel.

               

              Aber zurück zu den Briten. Die Wahlen sind in nicht einmal 14 Tagen. In GB herrscht Mehrheitswahlrecht. Keine Partei, die für den Exit vom Brexit wirbt, schafft es, genug Menschen zu begeistern, um auch nur in die Nähe einer Parlamentsmehrheit zu kommen. Schlimmer noch. Die Meisten haben das Thema abgehakt und wollen über andere Themen sprechen. Was erwarten Sie also für ein Wunder? Dass eine unbekannte Untergrundorganisation auftaucht und noch schnell die Stimmung wendet? In den paar Tagen? Etwas mehr Realismus sollte doch angebracht sein. Auch Ihr neuer Gott Macron hat schließlich ein paar Monate daran gearbeitet, genug Stimmen zu bekommen. Und wenn er auch nicht viel kann. Er kann zumindest schlichteren Gemütern den Kopf verdrehen. So Jemand ist in GB nicht in Sicht. Oder schnitzen Sie gerade einen neuen Messias für GB?

              • 6G
                60440 (Profil gelöscht)
                @warum_denkt_keiner_nach?:

                Sie haben ein eindimensionales Weltbild, immerhinque. Außerhalb dieses Weltbildes gilt, was der gute Brecht im Lied von der Moldau 1944 versschmiedete:

                "Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.

                Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag."

                Das ist die Lehre des 9.11. und sonst nichts.

                Und wir werden sehn, wie die May sich macht, so großartig ist ihr Vorsprung nicht. Und Corbyn hätte mit einem europafreundlichen Kurs gute Chancen sie zu schlagen, nur ist der ja so verbohrt wie Melenchon. Und genau das zeigt ja die Frankreich-Wahl. Es geht gut mit einem Pro-Europa-Kurs, selbst wenn man gar keine Partei hat ...

                Das haben brave Zeitungsleser wie Sie ja auch nicht für möglich gehalten. Und dann gibts ja auch die LibDems, aber die scheinen Sie nicht zu kennen.

  • Interessante Entwicklung. Ein Jeremy Corbyn in der Downing Street wäre spannend.

    • @warum_denkt_keiner_nach?:

      "Spannend" wäre das sicherlich. Vor allem, weil die Labour-Party so zerrissen ist, wie das übrige Land.

      • @Eichet:

        Es wird nicht viel darüber berichtet, aber vielleicht ist die Zerrissenheit doch nicht so groß?

    • 6G
      60440 (Profil gelöscht)
      @warum_denkt_keiner_nach?:

      Sagt der, der noch vor kurzem der felsenfesten Meinung war, May würde hauchhoch gewinnen ...

      • @60440 (Profil gelöscht):

        Die damalig Nachrichtenlage war so. Und natürlich freue ich mich, wenn sich doch die Möglichkeit einer Regierung links von Frau May abzeichnet.

         

        Wenn Sie den Artikel allerdings richtig gelesen haben, werden Sie festgestellt haben, dass der Brexit trotzdem eine gesetzte Sache bleibt.

        • 6G
          60440 (Profil gelöscht)
          @warum_denkt_keiner_nach?:

          Ja ja, die Nachrichten ändern sich, mit jedem Tag und jeder Stunde. So wie so ziemlich alles. Ausser natürlich die Einstellungen eines Corbyn zu Europa. Und der Brexit, weil das steht ja irgendwo. In Stein gemeisselt.

  • Vielleicht wird es eine Churchill-Attlee-Wahl. Job done, Theresa.

    Wir brauchen ein Gegengewicht zu M&M.